Felicity Gallant und Das Auge des Sturms (German Edition)
würde.
»Ich glaube, deine Großmutter hat eine Heidenangst vor dir«, sagte Henry, als sie an einem Freitagnachmittag im Lesezimmer der Bibliothek beieinandersaßen, statt am Sportunterricht teilzunehmen.
Felicity verzog das Gesicht. » Wenn das so ist, dann versteht sie es echt gut, sich nichts davon anmerken zu lassen.«
Martha schaute sie mitfühlend an. »Es ist sicher nicht leicht für dich«, sagte sie, »aber du bist tatsächlich in einer starken Position. Immerhin hat Rafe ihr Rache geschworen.«
Felicity nickte nachdenklich. »Ja, aber wenn die Geschichte auf ihren Tod hinauslaufen soll, muss ich sie umbringen. Und dabei ist sie unsterblich … und viel stärker als ich … und vollkommen skrupellos.«
»Rafe Gallant war berühmt für seine Schlauheit«, sagte Martha. »Wenn er dich in den Mittelpunkt seiner Geschichte gestellt hat, dann bestimmt nicht, um dich einfach dir selbst zu überlassen.«
»Seine ganze Schlauheit hat Ruby nichts genützt«, erwiderte Felicity. »Und dann hat er meinen Vater verlassen.«
»Die Geschichte stellt eine Gefahr für deine Großmutter dar. Vielleicht muss man einfach nur warten, dass die Dinge sich zuspitzen. Oder darauf, dass sie etwas unternimmt, das dann zu ihrem Ende führt – meinst du nicht auch, Henry?« Martha trat ihm unter dem Tisch ans Schienbein.
»Aua, was soll das? Au! Ach so.« Endlich fiel bei ihm der Groschen. »Klar, natürlich«, sagte er.
Martha stand auf, um ein paar Bücher wieder ins Regal zu stellen. Sie legte Felicity tröstend die Hand auf die Schulter.
Felicity seufzte. »Es wäre alles nicht so schlimm, wenn sie nicht auch Papa eingelullt hätte. Irgendwas hat sie mit ihm angestellt: Manchmal scheint er überhaupt nicht mehr zu wissen, wer ich bin; er ist wie ein Fremder. An Weihnachten, als sie mich an der Treppe gepiesackt hat, tat er so, als wäre ich gar nicht da.«
»Vielleicht hat sie ihn verrückt gemacht«, bemerkte Martha abwesend wie zu sich selbst, während sie die Stelle im Regal suchte, wo das Buch hingehörte.
»Was?«
Martha blickte auf. »Oh«, sagte sie, als würde ihr gerade wieder bewusst, dass sie mit ihrer Freundin sprach. »Na ja, weißt du, man kann verrückt werden, wenn man dem Wind zu lange ausgesetzt ist … das habe ich mal irgendwo gelesen.«
»Wieso sagst du das erst jetzt?«, fragte Felicity. »Klar, das muss es sein.«
»Möglich …«, sagte Martha zögernd.
In Felicitys Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Vielleicht muss ich ihn von zu Hause fortschaffen?«
»Quatsch, das geht doch nicht.« Der Ton, den Martha anschlug, hatte etwas leicht Herablassendes.
Henry nickte. »Und außerdem würde deine Großmutter sofort Verdacht schöpfen.«
Felicity sah die beiden böse an. »Danke, dass ihr so verständnisvoll seid.« Sie zog ihren Mantel an und stapfte wütend los in Richtung Ausgang.
Martha lief ihr nach. »Felicity, warte doch. Es tut mir leid, es war nicht so gemeint. Bitte, tu bloß nichts Unüberlegtes.«
»Es gibt keinen Grund, in Hektik zu verfallen«, sagte Henry ernst.
»Ihr habt leicht reden, schließlich ist es nicht euer Vater«, rief Felicity und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie stürmte erbittert fort, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wie konnte man nur so gefühllos sein? Die beiden hatten überhaupt keine Ahnung, wie es ihr ging. Sie sah sich um, aber weder Henry noch Martha kam ihr nach. Felicity wünschte sich doch nur, dass es wieder wäre wie früher, dass zumindest irgendetwas so wäre wie früher. Wenn sie nur wüsste, was sie tun könnte, damit ihr Vater wieder normal würde.
Sie hörte, wie ein Auto sich näherte. Es war Jeb. Er hielt neben ihr an. Sie wischte sich hastig mit dem Ärmel übers Gesicht; er sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte.
Er schaute sie besorgt an. »Alles in Ordnung?«
Felicity nickte und bemühte sich, eine unbefangene Miene zu machen. »Klar, alles prima«, sagte sie.
»Diese ganze Sache macht dir ganz schön zu schaffen, nicht?«
Ihre Lippen fingen zu zittern an. Tränen quollen ihr aus den Augen.
»Komm, steig ein«, sagte Jeb. »Ich zeig dir was, das wird dich ein bisschen aufheitern.«
Felicity zögerte kurz, dann stieg sie ein. Während der Fahrt drehte sie ihr Gesicht zum offenen Fenster; die kalte Luft tat ihr gut. Jeb fuhr zur Oberstadt hinauf, dann bog er von der Straße ab auf einen von Gras und Unkraut überwucherten Weg, den Felicity bis dahin noch nie bemerkt hatte und der zu einer Einfahrt in einer
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