Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)
unterschwellig aggressive Leere vieler alter Puppen aus, und sie befand sich in einem Zustand des endgültigen Verfalls. Der Kopf war mit dem Körper mit wenigen Fäden verbunden, von denen die meisten bereits gerissen waren. Wenn ich mich nicht vorsah, würde ich die Puppe enthaupten, ohne es zu wollen.
Ein Kinderspielzeug schien die besten Voraussetzungen zu bieten. Emotionen sind am stärksten, wenn man jung ist. Das soll nicht heißen, dass Abbie lange genug gelebt hatte, um alt zu werden.
Ich schloss die Augen und lauschte der Puppe. Ich kann es nicht anders beschreiben. Ich erwartete nicht, dass das Ding mit mir redete. Aber es ist eine Art Synästhesie, vermute ich. Ich habe kein geistiges Auge, sondern ich habe ein geistiges Ohr. Es dauert gewöhnlich eine Weile, aber wenn ich meinen Geist bündle und sämtliche Ablenkungen ausschalte und verdränge, dann haben die meisten Dinge eine eigene Melodie oder wenigsten ein oder zwei typische Töne, anhand derer man sie identifizieren kann.
Diesmal dauerte es keine Weile. Es gab überhaupt keine zeitliche Verzögerung. Nackte Emotionen überrollten mich wie eine Lawine. Ich musste heftig gekeucht haben, denn Steve schaute mich überrascht und besorgt an – und, vielleicht unterschwellig, mit einem Gefühl der Abneigung oder des Widerwillens.
Abbies Emotionen mussten, wenn sie ihre mit Lumpen ausgestopfte Freundin im Arm hielt, enorm stark gewesen sein. Stark genug, um wie eine Bandaufnahme erhalten zu bleiben, so dass ich sie hören konnte. Vielleicht gewannen sie ihre Intensität aber auch nur aus ihrer Einfachheit, denn es gab eigentlich nur einen einzigen Eindruck: verzweifeltes, qualvolles Unglücklichsein, so dunkel und bedrückend, als befände man sich auf dem Grund eines tiefen Brunnens, ohne zu wissen, wie man dort hingelangt war.
Es kostete mich einige Mühe, nicht den Kopf in den Nacken zu werfen und zu heulen. Wäre ich allein gewesen, hätte ich es wahrscheinlich getan, denn derart starke Emotionen, selbst wenn sie von jemand anderem stammen, bringen einen auf vielfältige überraschende Art und Weise aus dem Gleichgewicht, wenn man nicht irgendwie Dampf ablassen kann.
Es kostete ähnlich viel Mühe, die Puppe wieder zurückzulegen. Sie klebte irgendwie unlösbar an meinen Händen fest. Nachdem ich es geschafft hatte, brauchte ich ein paar Sekunden, um mich zu erholen, ehe ich wieder reden konnte.
Daher ergriff Torrington als Erster das Wort. »Ist dort irgendetwas?«, wollte er wissen.
Ich nickte wortlos.
»Eine … eine Spur, der Sie folgen können?«
»So funktioniert das nicht«, sagte ich. Es kam barscher als beabsichtigt über meine Lippen – wahrscheinlich war es die Nachwirkung all dieses schrecklichen Kummers, der auf meine Stimmung drückte, aber auf jeden Fall ließ mein Umgang mit Hilfesuchenden sehr zu wünschen übrig. Ich hasste es, jeden meiner Schritte erklären zu müssen, selbst wenn ich es mit intelligenten Leuten zu tun hatte, die halbwegs verstanden, wovon ich redete. Ich versuchte es trotzdem. »Ich lese alte Emotionen, keine aktuellen, gegenwärtigen. Ich versuche nicht, Abbie zu erreichen, wo immer sie sich zurzeit aufhalten mag, sondern ich … verschaffe mir nur ein Bild von ihr, wie sie zu Lebzeiten war. Aber ja, da ist etwas. Genug, um sie zu erkennen, falls ich sie sehe oder in ihre Nähe komme. Es ist ein Anfang.«
»Ein Anfang?«, wiederholte Steve. Anwälte kennen die Bedeutung eines Vertrags, selbst wenn er nur mündlich geschlossen wurde.
»Kann ich diese Sachen bis morgen hier behalten?«, fragte ich.
»Natürlich.«
Ich nickte und spürte, wie sich ein Gewicht auf meine Schultern legte, das sich deutlich von der Last der Emotionen Abbies unterschied. »Dann hören Sie sich mein Angebot an, falls Sie noch interessiert sind. Ich weiß nicht, ob ich Abbie zu Ihnen zurückbringen kann. Wie ich schon sagte, hängt es davon ab, wo sie ist. Wenn ihr Geist zur nächsten Station oder wie immer man das nennen will, weitergewandert ist, kann niemand sie finden, und niemand kann dorthin vordringen, wo sie dann ist. Aber ich könnte Ihnen vielleicht diese Frage beantworten – könnte Ihnen zumindest erklären, wie die Chancen stehen. Und wenn sie noch hier ist – sozusagen bei uns, im Diesseits – dann gibt es ein paar Dinge, die wir versuchen können. Wenn nicht …« Ich zuckte die Achseln. »Nun, zumindest wissen Sie dann, wo Sie stehen. Nützt Ihnen das etwas, oder wollen Sie Ihr Glück bei jemand anderem
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