Felix Castor: Ein Höllenhund kommt selten allein (German Edition)

Meinung nach gestorben ist, und sehen, ob der Geist auf irgendeine Art und Weise darauf reagiert.«
    »Wie eilig ist das?«, fragte ich.
    »Zurzeit? Nicht sehr, denke ich. Wir warten noch immer auf einige Ergebnisse aus dem Kriminallabor. Warum? Haben Sie die Absicht, in der Versenkung zu verschwinden?«
    »Ich habe einen anderen Auftrag.«
    Coldwoods Lachen war knapp und laut. »Dann stehen wir tatsächlich kurz vor dem Weltuntergang. Was für ein Fall ist es?«
    »Ein Mädchen ist verschwunden.«
    »Übernehmen Sie jetzt auch die Suche nach Vermissten?«
    »Nein, es ist ein totes Mädchen. Der Name ist Abigail Torrington. Es ist eine lange Geschichte.«
    »Dann behalten Sie sie für sich. Ich hasse lange Geschichten. Rufen Sie mich an, wenn Sie frei sind.«
    Er beendete das Gespräch genauso abrupt, wie er es begonnen hatte. Ich holte Pens altes Straßenverzeichnis von London aus einem Wandregal und legte es aufgeschlagen auf den Küchentisch. Ich fand außerdem einen Markerstift, der genau das war, was ich jetzt brauchte. Ich blätterte bis zu der Seite, auf der Harlesden zu sehen war, knickte mitleidlos den Buchrücken, damit es flach auf dem Tisch lag. Es war sowieso seit fünf Jahren überholt. Ich würde ihr ein neues kaufen, sobald ich Steve Torringtons hilfreichen Umschlag voller Bargeld und Schecks in Händen hätte.
    Ich zeichnete in der Craven Park Road dort, wo sich etwa mein Büro befand, ein Kreuz ein. Dort hatte ich Abbies Puppe zum ersten Mal in die Hand genommen und dabei mit dem Gesicht zum Fenster gestanden … also nach Norden. Zumindest in nördlicher Richtung. Die Spur – den Eindruck, dass irgendeine Reaktion erfolgte, als ich meine kleine Melodie spielte – hatte ich halblinks hinter mir wahrgenommen. Ich zeichnete mit dem Marker eine breite, krakelige Linie, die Park Royal, ein langes Stück der Western Avenue, Hanger Hill und Ealing umschloss … ich musste irgendwo Schluss machen, daher entschied ich mich für den als Hochstraße geführten Abschnitt der M4 als grobe Grenze.
    Dann fand ich die Du Cane Road und das kleine Kreuz, das den Standort von Saint Michael’s markierte. Der Parkplatz, wo ich ein wenig früher heute Abend meinen zweiten Versuch unternommen hatte, lag etwa einhundert Meter entfernt an der Straße. Ich hatte in die untergehende Sonne geblickt, und aus dieser Richtung war die Antwort erfolgt – bis ich von dieser kleinen psychischen Splitterbombe getroffen wurde, die mir zu einem Loch in der Zunge und einem Klingeln in den Ohren wie von den Glocken der Hölle verholfen hatte.
    Genau von Westen. Ich zeichnete eine zweite Linie durch Acton, Ealing und Drayton Green bis zur Hügellandschaft des Brent Valley Golf Course. Peace würde Abbie ganz gewiss nicht dort verstecken. Die Golfplatzgebühren waren astronomisch.
    Die beiden Linien kreuzten sich über einem breiten Landstrich von Acton und North Ealing. Ich hatte sie mit Absicht so großzügig eingezeichnet, denn dies war keine Raketen- oder sonst irgendeine verdammte Wissenschaft, die diesen Namen verdiente. Hier geschah nichts anderes, als dass ich versuchte, aus ungenauen und unvollständigen Daten halbwegs zuverlässige Informationen zu extrapolieren.
    Und in diesem Zusammenhang musste ich wieder an Nicky denken.
    Woraufhin mir der zerknüllte Bogen Ausdruckpapier in meiner Tasche mit seiner handschriftlichen Notiz darauf einfiel.
    Das Oriflamme.
    Ich schaute auf die Uhr. Erst elf, daher wäre in dem Laden sicherlich noch Hochbetrieb. Und vielleicht glaubte Peace, dass er mich mit seinem kleinen psychischen Überfall schlimmer zugerichtet hatte als tatsächlich geschehen. Es gab nichts Schöneres, als der Gegenseite zuvorzukommen.

6
    Eine breite Treppe führte hinauf zum Eingang. Zur Straße war sie durch ein schmiedeeisernes Gitter abgetrennt, in welches das Wappen des Stadtbezirks Camden eingearbeitet worden war mitsamt dem frommen Motto
Non sibi sed toti
, gewöhnlich übersetzt mit: »Keiner gebe nur für sich, sondern für alle«. Ich vermute, zu irgendeiner Zeit hatte dieses Gebäude der Regierung gehört.
    Jetzt hingegen war das ganz eindeutig nicht mehr der Fall. Die beiden Schlägertypen, die mich am Ende der Treppe kontrollierten, hatten weder das Aussehen noch das Modebewusstsein irgendeines öffentlichen Bediensteten, den ich bisher kennengelernt hatte. Wahrscheinlich hätten sie auch keine besonders rosige Zukunft in der Bezirksverwaltung gehabt, es sei denn, Camden hätte sich irgendwann