Fesseln des Herzens
Burg. Dort werde ich dir alles erzählen.«
Mit diesen Worten eilte die Baronin zurück zu ihren Gemächern.
Henry blieb noch einen Moment stehen, als hätte ihn soeben der Blitz getroffen. Nicole of Ravencroft wollte ihn außerhalb der Mauern der Burg sehen! Welchen Grund hatte das? Wollte sie etwa mit ihm fliehen?
Fellows blickte zu den Ställen. Wenn sie das meinte, sollte er vielleicht besser Pferde mitnehmen.
Unruhe überkam ihn. Und gleichzeitig eine Art freudige Erregung. Er hatte nicht gewagt, seinen Wunsch in seinen Gebeten zu benennen, denn er verstieß gegen eines der Gebote der Bibel. Doch Gott kannte die Gedanken seiner Kinder, und vielleicht hatte er ein Einsehen mit ihm. Oder mit Nicole …
Mit langen Schritten eilte Aimee auf die Ställe zu. Beim Durchsehen ihrer Kräutervorräte war ihr aufgefallen, dass ihr Huflattich, Kamille und Mohnsamen fehlten. Während sie die ersten beiden Gewächse auf der Wiese finden würde, musste sie für die Mohnsamen ins Dorf reiten.
Da die Baroness versorgt war und Celeste über die Herrin wachte, hatte sie die Baronin um Ausgang gebeten. Nicole of Ravencroft hatte ihn ihr gewährt, unter der Maßgabe, innerhalb von zwei Stunden zurückzukehren, damit sie in der Nacht die Amme ablösen konnte.
Im Gegensatz zu vorherigen Abenden drehte sich Aimee diesmal nicht zur Burg um. Sie wusste, dass der Baron am Fenster stehen und sie beobachten würde. Oft genug hatte sie sein Gesicht dahinter ausmachen können, und auch jetzt meinte sie seinen Blick zu spüren. Nur diesmal wollte sie ihn nicht erwidern.
Den ganzen Tag über hatten Gedanken an ihn ihren Verstand erfüllt.
Ihr Rappe, der sie bereits gewittert hatte, begrüßte sie mit einem freudigen Wiehern, als sie den Stall betrat.
»Schon gut«, sagte sie und fuhr ihm durch die Mähne, deren Farbe sie so sehr an das schwarze Haar des Barons erinnerte. Aber diesen Gedanken schob sie sofort energisch beiseite. Sie durfte jetzt nicht an ihn denken.
Sie hoffte, auf dem Ritt ins Dorf, wo sie eine befreundete Kräuterfrau aufsuchen wollte, ein wenig Klarheit zu erhalten. Sollte sie den Worten des Barons glauben oder ihren eigenen Augen?
Aimee wusste, dass Eindrücke täuschen konnten. Außerdem konnte sie es sich nicht vorstellen, dass Ravencroft ein Mann war, der auf seinem ehelichen Recht mit Gewalt bestand. Warum hätte er sonst versuchen sollen, es ihr zu erklären.
Nachdem sie den Rappen gesattelt hatte, führte sie ihn aus dem Stall. Noch immer blickte sie sich nicht um, gewahrte allerdings, dass Henry mit langen Schritten über den Hof marschierte. Er wirkte irgendwie nervös, und selbst im beginnenden Dämmerlicht konnte sie erkennen, dass sein Gesicht gerötet war. Da er weder nach links noch nach rechts blickte, bemerkte er sie nicht.
Aimee sah ihm kurz nach und fragte sich, was seine Eile verursacht hatte. Dann schwang sie sich auf den Rappen und drückte ihm die Hacken in die Flanken.
Während sie die Wächter am Tor grüßte, durchquerte sie den hohen Steinbogen und preschte dann hinunter zum Dorf.
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10 . Kapitel
H enry Fellows stand unter dem mächtigen Eichenbaum, dessen Laub ein dichtes Dach über ihm bildete. Die Luft war mild und strich wie ein Seidentuch über seine Haut, während ihm der Duft von reifendem Korn, Gras und Erde in die Nase strömte.
In der Ferne erhob sich die Burg dunkel und mächtig, aber selbst der Wächter mit den schärfsten Augen würde ihn hier nicht ausmachen können. Vereinzelt brannten Lichter im Turm und auf der Mauer.
Nicole hatte gemeint, dass sie sich unbemerkt aus der Burg stehlen könnte, doch mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde sich Henry unsicherer. Würde sie kommen? Was sollte er tun, wenn sie nicht erschien?
Sehnsuchtsvoll blickte er zu dem Weg hinüber, den sie jeden Moment entlangkommen müsste. Nichts zu sehen, nur eine Eule flatterte darüber hinweg.
Wenn ich Schwingen hätte, dachte Henry, dann würde ich an ihr Fenster fliegen und sie mit mir forttragen. Aber er war mit den Füßen an die Erde gekettet, daher blieb ihm nichts weiter übrig, als hier zu stehen und zu warten.
Als die Eule zum fünften Mal ihren durchdringenden Schrei ausstieß, bemerkte er plötzlich ein Rascheln. Es war leise, wie der Schritt eines Rehs auf Futtersuche.
Henry starrte angestrengt in die Richtung, aus der er das Geräusch gehört hatte. Anstelle eines Rehs tauchte nur wenig später eine Gestalt auf. Ihr dunkler Mantel ließ sie perfekt mit der
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