Feuer der Rache
jemanden geben würde, mit dem sie darüber reden konnte. Aber das war unmöglich!
Sie sah auf die Uhr. Halb zehn. Es wurde Zeit, sich anzuziehen und zu Michael zu fahren, um ihm ein Frühstück zu richten.
Es klingelte. Sabine tappte zur Tür und drückte auf den grünen Knopf der Sprechanlage. „Ja?"
„Kommissarin Berner?", fragte eine weibliche Stimme. Sie zögerte. „Ja, das bin ich. Wer sind Sie?"
„Tanja Sandemann. Kann ich mit Ihnen sprechen?"
„Was, jetzt?", entschlüpfte es Sabine.
„Ja. Wenn es möglich ist?"
Die Kommissarin sah an ihrem verwaschenen Schlafanzug hinunter zu ihren nackten Füßen. „Äh, ja, geben Sie mir zwei Minuten." Sie drückte auf den Türöffner und sauste ins Schlafzimmer. Noch ehe die Besucherin die Treppen heraufgekommen war, verschwand sie mit einer Jeans, T-Shirt und Unterwäsche unterm Arm im Bad. Sie war noch beim Zähneputzen, als es an der Wohnungstür klopfte.
„Gehen Sie schon mal ins Wohnzimmer. Ich komme gleich."
Fünf Minuten später stürmte Sabine halbwegs vorzeigbar aus dem Bad und reichte der jungen Witwe die Hand. Neben dieser eleganten Frau, die sie um einen halben Kopf überragte, fühlte sie sich wie ein Bauerntrampel. Frau Sandemann trug ein enges, schwarzes Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Die Füße steckten in Lackpumps mit hohen Absätzen. Eine dunkle Sonnenbrille verbarg ihre Augen, der Rest des Gesichts war sorgfältig geschminkt. Sie wirkte sogar noch attraktiver als bei ihrer ersten Begegnung im Haus von Everheest.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?", stotterte Sabine nach einer Weile, als sie merkte, wie sie die Besucherin anstarrte. „Bitte setzen Sie sich."
Frau Sandemann ließ sich in einen Sessel sinken und schlug die Beine übereinander. „Einen Kaffee, bitte", sagte sie, „schwarz, ohne Milch und Zucker."
Natürlich, dachte Sabine, während sie sich zwei Löffel Zucker und eine Menge Milch in ihren Kaffee kippte. Bei der Figur!
„Sie fragen sich sicher, warum ich Sie daheim aufsuche", begann die Witwe, nachdem sie einen winzigen Schluck Kaffee getrunken hatte. Vermutlich war sie ein anderes Gebräu gewohnt als den Billigkaffee vom Discounter.
Ja, stimmte ihr Sabine in Gedanken zu, und ich wüsste auch gern, woher du meine Adresse hast.
„Ich wurde gestern verhört -oder befragt -, ich weiß nicht, wie Sie das in Ihrem Fachjargon nennen. Ich wunderte mich, dass Sie nicht da waren. Hauptkommissar Ohlendorf erklärte mir, Sie würden nicht an diesem Fall arbeiten. Sie seien krankgeschrieben?"
Sie musterte die Kommissarin durch ihre getönten Brillengläser, als wolle sie abschätzen, was der Frau fehlen könnte. Sabine ignorierte die nicht ausgesprochene Frage und sah ihr Gegenüber schweigend an.
„Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Die ganze Nacht bin ich auf und ab gegangen und habe mit mir gerungen. Ich lühle mich so hilflos. Ich kann nur hoffen, dass Sie mir helfen können. Sie haben auf mich den Eindruck gemacht, als würden Sie sich nicht so leicht von Macht und Geld beeinflussen lassen, und da kam mir die Idee, ich könne Sie – sozusagen privat -um einen Rat bitten. Ihr Kollege, Herr Lodering, hat mir freundlicherweise Ihre Adresse gegeben."
Dieses Rätsel war also gelöst. Aber die Kommissarin nahm sich vor, mit Sönke ein Hühnchen zu rupfen. Er hätte sie wenigstens vorwarnen können!
„Frau Sandemann, mein herzliches Beileid. Ich verstehe Ihre Verzweiflung, aber ich kann mir nicht denken, womit ich Ihnen helfen könnte."
„Ich möchte wissen, ob ich Angst um mein Leben haben muss." Sie nahm ihre Brille ab und sah die Kommissarin an. Trotz des Make-ups bemerkte Sabine, dass sie dunkle Schatten unter den Augen hatte, die stark gerötet waren.
„Erzählen Sie mir, was Sie beunruhigt", forderte sie die Besucherin auf.
Frau Sandemann griff nach der schmalen Lacktasche, die sie mitgebracht hatte, und nahm einen DIN-A4-Ordner heraus. Sie beugte sich vor und reichte ihn der Kommissarin. „Ich möchte, dass Sie sich das ansehen und mir sagen, was Sie davon halten. Ich habe ihn im privaten Tresor meines Mannes in seinem Schlafzimmer gefunden. Es gibt im Haus noch einen gemeinsamen Tresor, in dem ich meinen Schmuck und einige Wertpapiere aufbewahre. In den Tresor meines Mannes habe ich vorher nie reingesehen. Ich fand die Kombination in einem Umschlag bei den Sachen, die er mir für den Notfall gegeben hat. Falls ihm etwas zustößt."
Die Kommissarin nickte und nahm den Ordner entgegen.
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