Feuer (German Edition)
Jämmerlichkeiten, die Unruhen und die Ödigkeit der gemeinen Tage. Es war die glückliche Ruhepause, in der der Stachel des Schmerzes und der Notdurft aufhört und die geschlossenen Hände des Schicksals sich langsam zu öffnen scheinen. In Gedanken durchbrach er diese Mauern, die die erregte Menge wie in einen heroischen Kreis zusammendrängten, in einen Kreis von roten Dreiruderern und von befestigten Türmen und sieghaften Flotten. In der Begeisterung seines neuen Gefühls schien der Raum ihm beengt. Und wiederum zog es ihn zu der wirklichen Menge, zu der ungeheuren Vielheit mit einer Seele, die er vorher hatte fluten sehen in der marmornen Enge, und deren Geschrei aufgestiegen war in die Sternennacht, an der sie sich berauschte wie an Blut oder an Wein.
Und nicht nur zu dieser Menge, zu unendlichen Mengen schweiften seine Gedanken. Und erbeschwor sie herauf, zusammengedrängt in großen Theatern, beherrscht von dem Gedanken der Wahrheit und der Schönheit, stumm und gespannt vor dem großen Bühnenraum, der sich auf einen wunderbaren Prospekt des Lebens öffnete, oder dem plötzlichen Glanz, den ein unsterbliches Wort ausstrahlte, mit Entzücken zujubelnd. Und der einst gehegte Traum von einer erhabeneren Kunst zeigte ihm von neuem die Menschen, ergriffen von Ehrfurcht vor den Dichtern, als denen, die allein es vermögen, auf Augenblicke die Sorgen der Menschen zu unterbrechen, den Durst zu stillen, Vergessen zu bringen. Und zu leicht erschien ihm die Aufgabe, die er erfüllte. Denn von dem Odem der Menge angeweht, hielt sein Geist sich für fähig, Gigantisches zu erdichten. Und das Werk, das er noch formlos in seinem Innern nährte, gab ein ungestüm zuckendes Lebenszeichen von sich. Indessen sahen seine Augen von dem Kreis der Gestirne die tragische Muse sich abheben, mit der Stimme der Verkünderin, die in den Falten ihrer Gewänder für ihn das andächtige und stumme Entzücken der fernen Mengen Zu tragen schien.
Fast erschöpft von dem intensiven Leben, das er in der Pause gelebt, Hub er mit gedämpfter Stimme wieder zu sprechen an.
»Wer sieht nicht« – begann er von neuem – »wer sieht nicht in dieser Erscheinung, die für mich zu jener Stunde so lebendig und wirklich war, daß sie mir fast greifbar schien, – wer von meinen Hörern sieht nicht die bedeutungsvolle symbolische Übereinstimmung?
Die gegenseitige Leidenschaft Venezias und des Herbstes, die beide zum höchsten Gipfel ihrer sinnlich wahrnehmbaren Schönheit steigert, hat ihre Ursache in einer tiefgehenden innerlichen Verwandtschaft: Venedigs Seele, die Seele, mit der die alten Künstler die schöne Stadt bekleideten, ist herbstlich.
Als ich die Ähnlichkeit des äußeren Schauspiels mit dem innern entdeckte, vermehrte sich mein Entzücken unsagbar. Die unabsehbare Menge der unvergänglichen Formen, die die Kirchen und die Paläste bevölkert, antwortete von ihren Plätzen den Harmonien des Tageslichtes mit einem so vollen und mächtigen Akkord, daß er in kurzem der dominierende wurde. Und – da das Licht des Himmels sich mit dem Schatten ablöst, aber das Licht der Kunst in der Seele des Menschen unauslöschbar andauert – als das verschwenderische Licht auf den Dingen verblich, fand mein Geist sich allein und verzückt unter den Wunderwerken eines idealen Herbstes.
Als solcher erscheint mir die Kunstschöpfung, die zwischen der Jugendlichkeit des Giorgione und dem Alter des Tintoretto liegt. Sie ist purpurn, vergoldet, üppig und ausdrucksvoll, wie die Erdenpracht unter dem letzten stammenden Sonnenstrahl. Wenn ich an die heißblütigen Schöpfer so gewaltiger Schönheit denke, stellt sich meinem Geist das Bild des Pindarschen Fragments dar: – ›Als die Centauren die Kraft des Weins, der süß wie Honig, kennen lernten, der die Menschen bezwingt, verbannten sie von ihrem Tisch alsobald die weiße Milch; und sie beeilten sich, den Wein aus silbernen Hörnern zu trinken...‹ –
Niemand auf der Welt kannte und würdigte den Wein des Lebens besser als sie. Einen leuchtenden Rausch wirkt er in ihnen, der ihre Macht vervielfältigt und ihrer Beredsamkeit eine befruchtende Tatkraft mitteilt. Und in den schönsten ihrer Geschöpfe scheint ihr eigener ungestümer Pulsschlag weiter zu leben und durch die Jahrhunderte fortzudauern, wie der Rhythmus der venetianischen Kunst selbst.
In wie reinem und poetischem Schlummer ruht die heilige Ursula auf ihrem jungfräulichen Lager! Ein tiefes Schweigen liegt über dem einsamen Raum, in
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