Feuer um Mitternacht
bei dem schönen Wetter nichts aus.“
„Warum starrst du mich so an?“
Sie drängte den Rücken gegen die Geländerstange, bog ihn ein wenig nach hinten — ein wenig nur, aber das genügte. In ihren Augen tanzten ein paar Ausrufezeichen. Ich preßte die Hände um den Fahrradlenker, zerrte schließlich meine Augen gewaltsam von der gewissen Stelle weg, schaute auf meine Füße. Wenn sie den roten Pullover trug, war es besonders schlimm.
„Willst du, daß ich in die Luft gucke!“ sagte ich endlich. Wir radelten unter dem Deich entlang auf die Häuser von Akkersum zu, deren Dächer und Schornsteine gerade noch aus den Gebüschinseln herausragten.
Auf halbem Weg schoben wir unsere Räder über die Deichkrone und warfen sie ins kurze Gras, über das sich die
Schafe vom Frühjahr bis in den Spätherbst vor- und zurückkauten.
Das Wasser hatte den großen Findling zur rundbuckligen Insel gemacht. Oben stand eine Silbermöwe und machte mißtrauisch den Hals lang. Hoffentlich hatte sie unseren Sitzplatz nicht vollgekleckert!
Die Flut stieg noch eine halbe Stunde, aber viel Wasser brachte sie nicht mehr. Gleich nach dem Mittagessen hatte ich im Tidenkalender nachgeschaut und einen langen Pfiff ausgestoßen, als ich sah, daß es so gut mit dem Wasserstand paßte: Ich konnte Sylvie wieder zum Stein hinaustragen! Ich zog die Gummistiefel an. Das Wasser ging höchstens bis zur halben Wade.
Wir faßten uns bei den Händen und schlitterten die Deichschräge hinunter. Als wir halb unten waren, breitete die Möwe die Schwingen aus — machte sich startklar. Und sobald wir den steinigen Ufersaum erreichten, stieß sie sich in die Luft. Menschen waren ihr nur angenehm, wenn sie mit Brotbrocken warfen.
Fünfundzwanzig Meter bis zum Stein! Mindestens. Fünfundzwanzig lange Meter würde ich Sylvie tragen, Arm und Hand um ihre Schenkel legen. Heute trug sie Strumpfhosen...
„Komm“, drängte ich. „Du brauchst dir nicht erst die Schuhe auszuziehen. Ich habe Gummistiefel an.“
„Das hattest du letztesmal auch“, kicherte sie.
„Du Biest!“ sagte ich.
Sie zierte sich nicht. Sie legte den Arm um meine Schulter, ließ den Kopf nach hinten hängen, überließ mir ihre Beine. Ich war stark. Ich faßte zu, streckte den Rücken, ließ Arm und Hand auf der Seide höher gleiten. Und noch etwas höher. Die Seide machte ihre Beine besonders glatt — warm und glatt. Ob es für sie auch so ein schönes Gefühl war?
Ich trug Sylvie halb um den Stein herum, setzte sie auf der schräg abfallenden Fläche ab. Die Möwe hatte keinen Klacks hinterlassen. Dann kletterte ich auf den hohen Rücken und schob mich dicht hinter Sylvie.
Ich wartete. Aber sehr lange wartete ich nicht. Dann fädelte ich meine Arme unter ihren hindurch, kreuzte sie wie eine Schere, legte die hohlen Hände auf ihre Brüste.
„Damit du nicht herunterrutscht“, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie sagte nichts, lehnte nur den Kopf hintenüber, hörte mir still zu, und ich berichtete, was sie noch nicht wußte: von der Vernichtung der Kartoffel und der letzten Karte. Von Kriminalobermeister Bank, und daß ich ihn Graueule getauft hatte... Ich ließ mich dabei von ihrem Haar kitzeln — Haar wie blankes Kupfer.
Und das Wasser war blaßblaue Seide mit silbernen Tupfen. Nach links hinüber aufgerollt, um die Festlandsküste zu zeichnen. Rechts schoben die Dünen ihre weißen Köpfe über den Rand. Vor uns, nahe am Horizont, schwebte die Nachbarinsel in der Luft über einem Streifen Nichts mitsamt zwei Kirchtürmen und einem Mühlenkreuz. Und das Kreuz drehte sich nicht.
Die Sonne ließ sich nach Westen zu sinken. Gegen halb sechs, schätzte ich, würde sie sich am Süderende auf die Leuchtturmspitze setzen und dann langsam über die Dünen in die Nordsee rollen.
Halb sechs... Das war noch so weit von uns weg, wie von hier nach München...
„Du, Mark“, sagte Sylvie plötzlich und drehte sich in meinen Armen herum, so daß meine Hände abrutschten. „Ist die Warterei nicht unerträglich, bis er zu dir kommt — der Kripomensch, meine ich.“
Ausgerechnet jetzt fing sie damit an!
„Er will mich wohl bis zuletzt aufsparen“, sagte ich und war mit den Gedanken nur halb bei meiner Antwort. „Warum denkst du gerade jetzt daran?“
„Ich denke nicht nur jetzt — ich denke schon seit gestern nachmittag darüber nach. Seitdem der Kriminalist im Dorf ist. Du! Da ist doch irgendein Loch in deiner Geschichte. Hast du mir auch alles erzählt?“
Es war nicht nur
Weitere Kostenlose Bücher