Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
leichte Kopfschmerzen, wenn sie sich dort aufhielt.
Das Treppenhaus erreichte man, indem man Marias Räume auf einer bestimmten Route durchquerte. Dann geschah es, dass man die Behaglichkeit des entrückten Schlosses hinter sich ließ und in eine Halle mit vielen Treppen trat, die fensterlos war und dennoch von einem grünlichen Licht erfüllt wurde. In diesem Treppenhaus konnte man Türen entdecken, vor denen Ritter Gangwolf Maria einmal gewarnt hatte. Denn sie führten an seltsame Orte, in fremde Welten oder gar in Sackgassen, aus denen es kein Zurück gab. Durch eine dieser Türen gelangte man in die tote Welt. Es war eine Tür, die Ritter Gangwolf vor langer Zeit in Amuylett geöffnet hatte, und die hier, in Marias Spiegelwelt, spiegelverkehrt existierte. Die echte Tür war von der Regierung versiegelt worden und wurde seither streng bewacht. Es war die Tür, durch die man Geraldine in ihr Verderben geschickt hatte.
Heute nun war es Lisandra beschieden gewesen, sechs Stunden lang in dem gruseligen Treppenhaus zu sitzen und die spiegelverkehrte Tür anzustarren, die Geralds Tante das Leben gekostet hatte. Sechs Stunden zu warten und darauf zu hoffen, dass sie Gerald lebendig wiedersehen würde. Den Gerald, mit dem sie eine große Begeisterung für Instrumentenzauber verband und der – wenn er nicht andauernd mit seiner geliebten Scarlett zusammenhing – ein wirklich beeindruckender Typ war. Lisandra bewunderte ihn jedes Mal, wenn er todesmutig in der Öffnung dieser grauenvollen Tür verschwand, die ihn sein Leben und seine Seele kosten konnte. Nur ein oder zwei Dinge müssten schief gehen und dann … doch daran wollte Lisandra nicht denken, auch nicht nach sechs Stunden vergeblichen Wartens.
Als Lisandra dachte, sie könnte das Warten nicht mehr länger aushalten, ohne zu schreien oder die Wände dieses schrecklichen Treppenhauses einzutreten, war Gerald endlich wieder aufgetaucht: Er war über die Schwelle gestolpert, mit einer äußerst ungesunden Gesichtsfarbe. Die glatten und sonst so glänzenden braunen Haare waren schweißnass gewesen, seine Lippen mehr blau als weiß. Er war zu Boden gesackt, auf die Knie, nachdem ihn Grohann gerade noch so vor einem Sturz bewahrt hatte. Den Kopf in die Arme vergraben hatte er dort gehockt, während bange Momente verstrichen waren, in denen Lisandra, Maria und Thuna ihn ängstlich beobachtet hatten. Schließlich hatte Gerald die Arme sinken lassen, sodass sie ihn ansehen konnten. Er sah schrecklich aus, die braunen Augen riesig groß und gepeinigt, doch er schien unversehrt zu sein.
Grohann versorgte ihn mit seiner grünen Wunderkraft, woraufhin sich Geralds Gesichtsfarbe und Lisandras Pulsschlag normalisierten. Schließlich erzählte Gerald von dem schlafenden Geschöpf mit den Flügeln, das er in der toten Welt gesehen hatte. Es berührte Lisandra seltsam, als Grohann von diesen Wesen berichtete, die angeblich aus alten Kriegen stammten und auf gefährliche Weise mit Engeln verwandt sein sollten.
Vielleicht lag es daran, dass Lisandra das fünfte Erdenkind war, das dem Tod zugeordnet wurde. Oder dass ihr Herz einem Gespenst gehörte – einem Jungen, der seit 112 Jahren tot war (doch dafür erstaunlich lebendig aussah und noch erstaunlicher küssen konnte). Alles, was jenseitig war, interessierte sie mittlerweile sehr. Es zog sie an. Darum verspürte sie keine Angst vor diesen Wesen in der toten Welt, obwohl Grohann doch eben unmissverständlich erklärt hatte, dass sie für Thuna eine große Gefahr darstellten.
Lisandras Herz, das in Geralds Abwesenheit schwer und kalt vor Sorge geworden war, erwärmte sich nun und erfüllte Lisandra mit Neugier und einer rätselhaft zärtlichen Neigung den fremden Geschöpfen gegenüber.
„Die geflügelten Wesen“, sagte Lisandra, „haben sie einen Namen?“
„Man nennt sie die Lieblosen“, antwortete Grohann. „Sie kennen keine Gefühle. Statt Herzen, heißt es, schufen die Engel in den Lieblosen nur leere Kammern und füllten sie mit Schatten.“
„Das klingt traurig.“
„Vielleicht hebst du dir dein Mitgefühl für andere Gelegenheiten auf, Lisandra“, sagte Grohann. „Den Lieblosen dürfte es egal sein, ob du sie bedauerst.“
„Gerade deswegen tu ich’s ja“, erwiderte Lisandra und das auf eine für sie ungewöhnlich nachdenkliche Weise. „Es ist nicht richtig, jemandem ein echtes Herz vorzuenthalten.“
„Erklär das einem Engel, wenn du einem begegnest“, sagte Thuna lächelnd. „Vielleicht sieht
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