Feuersang und Schattentraum (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
einer Tür im ersten oder zweiten Stock gekommen waren. Er rannte die Stufen hinauf und vernahm auf der Höhe des ersten Stocks wieder diesen Geruch. Den Geruch, der Maria sofort aufgefallen war, weil er nicht hierhergehörte. Der Duft von Gorginster.
Gerald war versucht, sich gegen die Wand zu drücken, um seine Anwesenheit zu verbergen. Immer noch dachte er sehr menschlich und gegenständlich, wenn er sich unangreifbar machte. Natürlich musste er sich nicht verstecken, er wusste es, doch der Impuls war da. Nach einer kurzen Orientierungspause lief er den Flur zur Rechten entlang und sah einen Nachtler, der sich so unauffällig und flink bewegte wie ein Schatten an der Wand. Daher hatten die Nachtler ihren Namen: Sie kamen und gingen wie die nächtliche Dunkelheit, kaum greifbar, flüchtig wie Gespenster.
Es waren aber keine Gespenster, sondern leibhaftige Menschen, die so trainiert worden waren, dass sie ungesehen morden, spionieren, auftauchen und verschwinden konnten, um dem Begehr ihres Auftraggebers zu dienen. Ob dieser Nachtler, den Gerald gerade erblickte, ein Mann oder eine Frau war, konnte er nicht erkennen. Er oder sie trug ein dunkelgraues Gewand und das Gesicht war vermummt.
Der flinke Schatten rannte auf Gerald zu und dicht an ihm vorüber. Er hielt auf die Treppen zu. Gerald machte kehrt, um ihm zu folgen, und sah, dass aus dem anderen Flur links der Treppe zwei weitere Nachtler kamen. Der eine hielt die vermummte Nase in die Luft, als wollte er Spuren erschnuppern, der andere kniete sich hin, um den Boden zu untersuchen.
Von Nachtlern wusste Gerald, dass sie meist in Gruppen unterwegs waren, bevorzugt zu fünft oder sechst. Im Moment sah er nur drei, doch es war gut möglich, dass sich weitere Nachtler hier aufhielten. Dorn musste sie geschickt haben, damit sie möglichst unauffällig die Spiegelwelt erkundeten und herausfanden, was mit dem ersten Trupp passiert war. Vermutlich sollten diese Nachtler nicht morden, sondern so unsichtbar wie möglich bleiben und bei der nächsten Gelegenheit zu Dorn zurückkehren. Was aber nicht hieß, dass sie ungefährlich waren. Von Nachtlern hieß es, sie seien mit dem Messer so schnell, dass man starb, bevor sie überhaupt zustachen. Sie konnten ihre Messer über große Entfernungen werfen und verfehlten nie ihr Ziel.
Gerald beschloss, den Nachtlern die Suche nach den Verschollenen zu überlassen und ihnen dabei zuzusehen. Sie waren darauf spezialisiert, Spuren zu lesen und zu wittern, was ein Mensch sonst kaum wahrnahm. Wenn sie den Tiger-Zauberer und seine Krieger nicht fänden, würde Gerald es erst recht nicht tun.
Am Fuß der Treppe tauchten zwei weitere Nachtler auf, sie waren also mindestens zu fünft. Die Nachtler verständigten sich unhörbar und schlugen dann den Weg zum alten Badezimmer ein. Gerald erwartete, dass sie von da aus weiter in Marias Räume vordrangen, doch hier erlebte er eine Überraschung: Die Nachtler gruppierten sich um eine schmale Tür im Badezimmer, die Gerald noch nie zuvor bemerkt hatte. Sich gegenseitig Schutz gebend, öffneten sie die Tür und huschten einer nach dem anderen hindurch. Der Letzte schloss die Tür hinter sich, doch Gerald lief einfach hinterher, da er Türen in seinem Zustand mühelos durchdringen konnte.
Hinter dieser kleinen Tür wirkte Marias Schloss weit weniger hübsch und gemütlich als vor der Tür. Plötzlich waren die Räume grau und verwahrlost, selbst das Wetter hatte sich geändert. Ein düsterer Himmel spendete nur wenig Licht, es war schattig und ein Wind, wie ihn Gerald in dieser Welt noch nie gehört hatte, zerrte ungeduldig und schlecht gelaunt am rissigen Holz der alten Fenster.
Eine schmale Treppe, von welken Blättern übersät, führte in einen Hof. Der eiskalte Wind riss hier an allem, was nicht befestigt war, und es klapperte, schlug, knarrte und quietschte in allen Ecken und Winkeln dieses trostlosen Ortes, der nirgendwohin zu führen schien, sondern eine Sackgasse war, in der man verendete, wenn man zu lange blieb.
Ein Vordach, das ursprünglich dazu gedient haben mochte, Pferde kurz unterzustellen oder ankommende Waren zu lagern, nutzten der Tiger-Zauberer und seine Leute als Unterschlupf. Warum sie ausgerechnet hier hausten, wusste wahrscheinlich nur die Spiegelwelt. Sie musste die Krieger hierhergelockt und dort festgehalten haben, eine andere Erklärung fiel Gerald nicht ein. Fast überkam ihn Mitleid. Denn die Kreaturen, die hier auf notdürftigen Lagern saßen oder schliefen,
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