Fey 07: Die Augen des Roca
und beruhigend.
Gabe war durstig.
Aber er hütete sich, unbekanntes Wasser zu trinken. Sein Leben lang hatte man ihm beigebracht, sich auf der Blauen Insel von jeglichem Wasser fernzuhalten, besonders wenn es von den Symbolen der einheimischen Religion umgeben war.
Leen und Fledderer erreichten ohne Zwischenfall die Haupthalle.
Gabe stieg die letzte Stufe herunter. Aus der Nähe betrachtet war der Fußboden nicht mehr ganz so weiß. Durch den Stein zogen sich graue Adern. Gabe hob den Kopf. Die Decke war so hoch, daß er sie kaum erkennen konnte. In der Mitte befand sich eine Lichtquelle. Sie war groß, rund und schimmerte wunderschön.
Da hörte er Schritte. Er wirbelte herum.
Der Eingang der Höhle war leer.
Die Türen zu den Nebenräumen ebenfalls.
Fledderer und Leen starrten ihn an, als sei er plötzlich verrückt geworden.
»Habt ihr das gehört?« fragte Gabe.
Die Schritte kamen näher. Sie waren leicht und über dem Glucksen des Brunnens kaum zu hören.
Wieder drehte Gabe sich um. In dem hohen, hallenden Raum war es schwer, ein bestimmtes Geräusch auszumachen.
»Ich höre nichts«, meinte Leen.
»Ich auch nicht«, schloß sich die Rotkappe an.
Dann erschien hinter dem Brunnen eine Frau. Gabe blinzelte. Dort waren Stufen, die er vorher nicht gesehen hatte. Die Frau stand auf der obersten Stufe.
Sie kam ihm bekannt vor.
Sie sah aus wie eine Fey.
Als sie Gabe erblickte, lächelte sie. Sie sprang leichtfüßig die Stufen hinunter wie eine noch junge Frau.
Gabe konnte sich nicht rühren. Sein Herz pochte wild.
Die Frau ging um den Brunnen herum.
Fledderer und Leen sahen sie nicht. Sie musterten forschend die übrigen Eingänge, schienen auf etwas zu lauschen, das sie nicht hören konnten.
»Gabe«, sagte die Frau und streckte die Arme aus. Sie trug Kniebundhosen, Stiefel und eine Lederweste, die Uniform der Infanteristen aus der Armee seines Großvaters. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.
Gabe bewegte sich nicht. Er starrte sie nur an.
Schon zweimal hatte er ihr Gesicht gesehen, beide Male in einer Vision.
In seiner ersten Vision.
Da hatte er sie neben einem Mann mit gelbem Haar und blasser Haut stehen sehen. Dann war ihr Gesicht geschmolzen.
In seiner zweiten Vision war sie noch einmal aufgetaucht, an dem Tag, an dem er beinahe gestorben wäre. Jenem Tag, an dem Coulter ihm das Leben gerettet hatte, indem er einen Bund mit ihm geschlossen hatte.
Dem Tag, an dem sie gestorben war.
Sie lief zu ihm und schlang die Arme um ihn.
Sie fühlte sich warm, wirklich und sehr lebendig an.
»Mein Gabe«, murmelte sie.
»Mutter?« fragte er und überließ sich ihrer Umarmung.
DAS MYSTERIUM
28
»Schluß für heute«, rief einer der Männer.
Vor Erleichterung stöhnend ließ Adrian die Hacke fallen. Die Blasen, die am Vormittag an seinen Händen aufgeplatzt waren, bluteten jetzt. Trotzdem hatte er noch über die Mittagspause weitergearbeitet, in der heißen Nachmittagssonne, bis zum Einbruch der Dämmerung. Nach der Unterhaltung mit dem Besitzer des Steinbruchs und dem fremden Mann aus dem Dorf hatte er nicht gewagt, früher zu gehen.
Dem Mann, der nach Gabe und Leen suchte.
Adrian hoffte, daß Fledderer und Coulter das Versteck ohne Zwischenfälle erreicht hatten. Nachdem sie gegangen waren, hatte er den ihnen zugewiesenen kleinen Abschnitt des Steinbruches allein bearbeitet. Er hatte die Felsbrocken in faustgroße Steine gehackt, damit sie später geglättet und zu Baumaterial zurechtgehauen werden konnten. Es war harte Knochenarbeit, die trotz allem Sorgfalt erforderte, aber sie befriedigte Adrian nicht. Die Feldarbeit dagegen mit ihrer ständigen Abwechslung, dem Zusammenspiel von Mensch und Erde, Mensch und Wetter, Mensch und Vieh, hatte er sehr geliebt.
Im Steinbruch dagegen zählten nur die Muskeln seiner Arme, seines Rückens und seiner Schultern, die Kraft seiner Wirbelsäule, seiner Beine und seines Bauches.
Jeder einzelne Muskel tat ihm weh.
Außerdem machte er sich Sorgen.
Schon den ganzen Tag machte er sich Sorgen. Wenn Coulter und Fledderer es nun nicht geschafft hatten? Wenn die Stadtbewohner das Lager entdeckt hatten?
Warum haßten sie die sogenannten »Langen« bloß so, und was hatte das alles mit den Fey zu tun?
Adrian streckte sich, bis seine Wirbel knackten. Der Schmerz war köstlich. Auch auf seinem Hof hatte Adrian körperliche Arbeit verrichtet, aber nicht derartig eintönige. Nicht einmal das Pflanzen ähnelte
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