Fey 09: Die roten Klippen
zu ihnen herüberschielte, und streckte auch den anderen Arm aus. Gabe überließ sich seiner Umarmung nur widerstrebend. Arianna trat ein Stück zur Seite, um ihrem Bruder Platz zu machen, und zum ersten Mal in seinem Leben drückte Nicholas seine beiden Kinder gleichzeitig an sich.
Dann ließ er sie wieder los, lächelte sie an und warf einen Blick auf Jewel. Sie sah traurig aus. Sie konnte ihre beiden Kinder nicht umarmen. Sie konnte es noch nicht einmal versuchen.
»Tut mir leid«, murmelte Nicholas. Er wußte nicht, ob er Jewel oder seine Kinder meinte. »Ich hatte keine Ahnung, daß so etwas passieren würde.«
»Das konntet Ihr auch nicht ahnen«, unterbrach ihn Adrian vom oberen Treppenabsatz aus. »Es hätte mir genauso passieren können. Aber ich sage es noch einmal: Wir dürfen diese Gegenstände nicht untersuchen, solange sich jemand mit Fey-Blut in dieser Höhle aufhält.«
Nicholas überlief es kalt. Er fragte sich, was das Licht wohl für Auswirkungen auf die beiden reinblütigen Fey ihrer kleinen Truppe gehabt hätte: Fledderer und Leen.
»Du hast recht«, stimmte Jewel Adrian zu. »Aber das, was Gabe und Arianna widerfahren ist, läßt mich wieder hoffen.«
Gabe warf ihr einen entsetzten Blick zu. Nicholas runzelte die Stirn. Schon wieder dachte sie einen Schritt weiter.
Jewel bemerkte seine Verwirrung.
»Stell dir vor, über welche Macht du verfügt hättest, wenn du die Kugel noch länger festgehalten hättest. Das verschafft uns gegenüber den Fey einen entscheidenden Vorteil. Dir haben die Augen nicht weh getan, oder doch?«
»Es war sehr hell«, meinte Nicholas. Er blickte erst Adrian und dann Coulter an. Beide zuckten die Achseln.
»Ich fand es auch ziemlich hell«, meinte Coulter. »Wie ein loderndes Herdfeuer, aber mehr auch nicht.«
»Das ist eine gute Beschreibung«, schloß sich Adrian an.
»Es ist eine Waffe«, sagte Jewel atemlos. »Eine Waffe, die für Inselbewohner harmlos und für Fey äußerst schmerzhaft ist. O Nicholas, ist dir klar, was das bedeutet?«
Nicholas schüttelte den Kopf, verblüfft über Jewels plötzlichen Stimmungsumschwung. Er selbst zitterte noch immer bei dem Gedanken, was er seinen Kindern beinahe angetan hätte. Jewel dagegen war wie verzückt.
»Es bedeutet«, führ sie fort, »daß ich recht hatte. Jeder Gegenstand in dieser Höhle ist eine Waffe. Jeder. Wir müssen nur herausfinden, wie man ihn benutzt.«
»Und wie wir uns selbst schützen können«, ergänzte Gabe. Seine Augen waren immer noch rot, seine Haut im Gegensatz dazu sehr blaß. Nicholas wußte nicht, ob das eine Reaktion auf den Schmerz oder auf die Worte seiner Mutter war.
»Das ist genau der Punkt«, stimmte Nicholas zu. »Wir dürfen nicht riskieren, unseren eigenen Fey Schaden zuzufügen.«
»Trotzdem hat sich meine Hoffnung erfüllt: Wir haben eine Chance.«
Daher rührte also ihre Hochstimmung. Ihren optimistischen Worten zum Trotz hatte sie sich wegen ihrer kleinen Anzahl und ihrer verzweifelten Lage genauso viele Sorgen gemacht wie er.
»Wir müssen so schnell wie möglich die anderen Gegenstände ausprobieren. Wir müssen feststellen …«
»Das ist nicht so einfach, wie du glaubst, Jewel«, unterbrach Nicholas sie. »Verzeih, daß ich es so offen ausspreche, aber die tödliche Wirkung des Weihwassers haben wir auch erst entdeckt, als wir es an lebendigen Fey ausprobiert haben.«
Jewel erschauderte und legte unwillkürlich die Hand auf ihren Scheitel. »Ich weiß«, seufzte sie. »Die Wirkung einiger Dinge werden wir erst im Kampfgetümmel feststellen. Aber diese Kugeln leuchten offenbar unabhängig davon, ob ein Fey in der Nähe ist oder nicht.«
Das stimmte wahrscheinlich; jedenfalls war es leicht zu überprüfen. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein«, beharrte Nicholas.
»Mit Vorsicht kann man keinen Krieg gewinnen«, widersprach Jewel.
»Man kann auch keinen Krieg gewinnen, wenn man alles verliert«, hielt Nicholas dagegen.
Einen Augenblick lang starrten sie einander feindselig an. Die Situation erinnerte Nicholas an ihre erste Begegnung in jener Küche, in der Jewel später gestorben war. Sie hatten die Klingen gekreuzt und einander in verschiedenen Sprachen herausgefordert, während sie sich bereits zueinander hingezogen fühlten.
»Hallo«, erklang Fledderers Stimme über ihnen. »Ich weiß, daß wir nicht hereinkommen sollen, aber ich wollte wissen, was es mit diesem Licht auf sich hatte.«
Also hatten auch Leen und Fledderer das Licht gesehen.
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