Filmriss
war es«, sagt er leise. Er guckt mich nicht an. »Jedenfalls fast.«
Ausgerechnet jetzt fängt er an zu essen. Vielleicht, damit offen bleibt, ob er mit mir oder der Frutti di Mare redet.
»Wieso fast?«
Es gibt jetzt nur noch uns beide auf der Welt. Alles um uns her verschwindet in dichtem Nebel.
»Derjenige, der überholt hat, war Bert.«
»Nicht das andere Auto?«
Er tupft sich den Mund mit der Serviette ab.
»Nein«, sagt er dann. »Nicht das andere Auto. Bert hatte zu viel getrunken. Viel zu viel. Er war Alkoholiker.« Er trinkt einen Schluck Wasser. »Du weißt ja, dass er letztes Jahr gestorben ist.«
»Ja.«
»Er hatte Leberzirrhose, seine Haut war am ganzen Körper tiefgelb, fast braun, und seine Organe sind praktisch nacheinander geplatzt, ein furchtbarer Tod. Er ist an den Folgen der Sauferei regelrecht verreckt. Aber deine Mutter ist wegen ihm schon vor zehn Jahren gestorben.« Er wirft seine zusammengeknüllte Serviette auf die angeknabberte Pizza.
»Aber warum ist sie zu ihm ins Auto gestiegen?«, frage ich entsetzt. »Sie muss doch gemerkt haben, dass e r …«
»Ich weiß es nicht.« Er zuckt die Schultern, ihm treten Tränen in die Augen. »Sie konnte es ja nicht mehr sagen. Verstanden hat das damals keiner.«
»Aber was glaubst du?« Ich spüre Wut in mir aufsteigen. »Du hattest schließlich genug Zeit, drüber nachzudenken.« Im Gegensatz zu mir, denke ich. Du hast es mir verschwiegen.
»Etwas nicht in Ordnung?« Der Kellner wirft einen missbilligenden Blick auf unsere Teller.
»Nein«, sagt mein Vater. »Es ist alles okay.«
Der Kellner scheint trotzdem beleidigt. Am liebsten würde ich ihm seine Frutti di Mare ins Maul stopfen, bis die Tintenfischbeinchen vorne rauskommen, und dann meine Pizza Salami gleich hinterher.
»Alles okay!?«, zische ich meinen Vater an. »Dass ich nicht lache.«
Ich kann nicht mehr sitzen bleiben, springe auf und renne zur Tür.
»Birte«, ruft mein Vater, »komm zurück! Es kann doch keiner mehr ändern, was passiert ist. Es ist schon so lange her.« Ein paar Schritte folgt er mir. Die Klinke der geöffneten Tür in der Hand drehe ich mich noch einmal um.
»Mir ist scheißegal«, schreie ich, »wie lange es her ist! Warum hast du es mir nicht früher erzählt?«
»Du warst zu jung«, sagt er leise. »Viel zu jung. Das hättest du doch nie verstanden.«
Der Kellner steht vorm Tresen und glotzt uns an wie eine Schauspieltruppe im Theater.
»Dann bin ich wohl immer noch zu klein«, sage ich. »Ich verstehe es nämlich noch immer nicht. Was hast du damals gemacht? Hast du Bert angebrüllt, ihn verprügelt?«
»Er war schon gestraft genug.«
»So, war er das?«
Er besinnt sich. »Nun ja, aber e r …«
»Da gibt es kein Aber!«
Zum ersten Mal in meinem Leben verachte ich meinen Vater. Er kommt mir plötzlich so schwach vor, so kraftlos. Meine Wut ist ungerecht, das weiß ich, aber in diesen Momenten ist sie stärker als ich. Ich gehe zurück zum Tisch, spüre schon seine Erleichterung.
»Nun kennst du wenigstens endlich die Wahrheit«, sagt er leise.
»Ja, nun kenne ich die Wahrheit.«
Im Stehen setze ich mein Cola-Glas an die Lippen und leere es in einem Zug, dabei schau ich ihm in die Augen. Er schweigt.
Ich knalle das Glas auf die Tischplatte. Ich lass ihn stehen und donnere die Tür hinter mir ins Schloss. Das Letzte, was ich sehe, ist das Gesicht des Kellners. Es sieht amüsiert aus. Gleich wird er noch Beifall klatschen.
Dann kommt mein Vater hinter mir her auf die Straße gelaufen, seine Jacke ist noch drinnen. Der Kellner beobachtet uns durch die Scheibe. Er fürchtet wohl, wir könnten gehen, ohne zu bezahlen.
»Birte?«
Seine Stimme hallt in der leeren Straße. Ohne mich umzudrehen, bleibe ich stehen.
»Was ist denn noch?«
»Alle haben gesehen, was mit Bert los wa r …«
»Aber?« Wütend schleudere ich ihm die Frage entgegen.
»Nur deine Mutter nicht. Sie wollte es nicht wahrhaben. Sie hat Bert immer in Schutz genommen und die Sache verharmlost, si e …«
»Ist Bert denn nicht verurteilt worden«, frage ich, »für das, was er getan hat? Soweit ich mich erinnere, war er doch nie im Gefängnis.«
»Er hat eine Geldstrafe gekriegt. Und später sein eigener, schrecklicher Tod. Wi r …«
Mir bleibt kurz die Luft weg.
»Weißt du was?«, unterbreche ich ihn dann. »Mir ist das scheißegal. Das ist alles so verdammt lange her, wie du schon sagst. Und woher soll ich überhaupt wissen, ob du mir jetzt die Wahrheit sagst,
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