Filmriss
nachdem du so lange gelogen hast?«
Noch im Reden renne ich los. Ich bin total sauer. Auf meinen Vater genauso wie auf Bert und meine Mutter. Alle haben das Problem so lange weich gespült, bis es zu spät war. Am Ende nicht nur für meine Mutter, sondern auch für Bert selbst, auch wenn der mir so was von scheißegal ist.
»Birte!«, ruft mein Vater noch einmal.
Dann bleibt es still. So still, dass ich nur noch meine eigenen Schritte höre, die immer schneller werden auf dem Asphalt. Ihr Echo klingt hart.
21
Unterwegs bin ich bestimmt fünfmal drauf und dran umzukehren. Immer wieder muss ich an meinen Vater denken. Es tut mir schon jetzt leid, dass ich ihn da einfach so habe stehen lassen. Gerade jetzt, wo er mir nach all den Jahren die Wahrheit gesagt hat. Tolle Belohnung für ihn!
Aber vorhin konnte ich nichts anderes tun als weglaufen. Wahrscheinlich wär ich sonst auf ihn losgegangen, hätte ihn geschüttelt oder auf ihn eingeschlagen. Nur ihn konnte ich noch verantwortlich machen für den total überflüssigen Tod meiner Mutter.
Ein Teil von mir will zurück und meinen Vater einfach umarmen. Ich stelle mir vor, wie er allein in der Pizzeria sitzt und auf die Rechnung wartet, mit der der Kellner sich so viel Zeit lässt, wie er will.
Doch schon bei diesem Gedanken nervt er mich wieder, weil er sich immer alles gefallen lässt, und ich weiß genau, dass ich nicht zurückgehen werde, nicht zurückgehen kann. Warum nur hat er seinem Schwager nicht die Flasche aus der Hand geschlagen, bevor es passiert ist? Warum hat er zugelassen, dass er mit einer Geldstrafe davonkam? Bert hatte das Leben seiner Schwester auf dem Gewissen! Kann man das Leben meiner Mutter etwa mit Geld aufwiegen? Hat er seine Strafe bekommen, weil er sich selbst Jahre später totgesoffen hat? Und wenn sein Tod noch so qualvoll und furchtbar war?
Die fiesen Gedanken schießen wie brennende Pfeile durch meinen Kopf. Ich laufe einfach immer weiter und bin schließlich, ohne es wirklich gemerkt zu haben, an der Ausfahrtstraße Richtung Küste angekommen. Ich bleibe stehen, um ein Auto anzuhalten und möglichst schnell zu den anderen an den Strand zu kommen. Dort werde ich einen überzeugenden Auftritt hinlegen. Die Musik werde ich ausdrehen, damit alle mich hören können. Auf den Tisch werde ich mich stellen, damit jeder mich sehen kann.
Ich werde ankündigen, dass ich etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Sie werden an meinen Lippen hängen, auch Marlon. Er wird ganz schön überrascht sein von meinem Auftritt, aber auch stolz, weil ich ihn wage.
»Nie wieder«, werde ich sagen und dabei nur ihn ansehen, »nie wieder in meinem ganzen Leben werde ich auch nur einen einzigen Tropfen Alkohol trinken! Das schwöre ich!«
Es fängt an zu regnen, ein paar Autos fahren vorbei, aber keins hält an. Schnell riecht es nach nasser Straße.
Ich werde Marlon in meinen Plan einbeziehen, und wir werden zusammen mit dem Trinken aufhören, so viel steht fest.
Ein Typ in einem schwarzen BMW tut, als würde er anhalten, drückt aber im letzten Moment voll aufs Gas. Durch die Scheibe sehe ich, dass er sich halb tot lacht. Ich zeige ihm meinen Mittelfinger, aber da ist er schon weg.
Vom Tod meiner Mutter werde ich erzählen und von ihrem saufenden Bruder, der eine Geldstrafe bekommen und dann später seine eigenen Organe zum Platzen gebracht hat, nachdem seine Haut orange geworden ist.
Über die Köpfe all der anderen hinweg werden Marlon und ich uns immer weiter anschauen. Demonstrativ wird er den Schnaps auf den Boden plätschern lassen, bevor er die leere Flasche achtlos nach hinten wirft und zu mir kommt.
Wie von Magneten angezogen. Wir umarmen uns und küssen uns lange. Ein Glücksgefühl macht sich in mir breit, wie ich es noch nie erlebt habe. Ein Gefühl von Leichtigkeit, richtig schwerelos. So als brauchte man nur die Arme ausbreiten und schon könnte man fliegen.
Zwei Autos halten fast im selben Moment. Ich will gerade in das erste einsteigen, da sehe ich, dass es mein Vater ist, der mir die Tür aufhält.
»Steig ein«, sagt er. »Wir fahren nach Hause. Lass uns zusammen einen Film anschauen.«
Ich will mitkommen, aber es geht einfach nicht. Es ist, als wären meine Beine gelähmt. Das zweite Auto fährt gerade wieder an und meine Lähmung löst sich. Ich sehe nicht mal nach, was für ein Typ hinter dem Steuer sitzt. Erst drinnen bemerke ich, dass es eine Frau ist, auf dem Rücksitz ein kleiner Junge im Kindersitz mit großen, ernsten
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