Finger, Hut und Teufelsbrut
stand in einer beigefarbenen Strickjacke mit einem Klemmbrett in der Hand vor ihr.
»Ein Notfall«, rief sie. »Kann ich hereinkommen?«
Psychiater hatten nur ganz selten Notfälle. Es gab durchaus Ausnahmen. Wenn beispielsweise ein langjähriger Patient auf der Kochertalbrücke stand und vom Handy aus drohte, ins Nirwana zu springen. Aber im Fall von Dr. Honeff war das unmöglich.
»Wer sind Sie denn?«, fragte er.
Aber Susanne war bereits an ihm vorbeigestürmt. Mitsamt Sportbuggy und Ola-Sanne, denn natürlich war sie von Tullau bis hierher gejoggt. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht demnächst wieder Größe 38 tragen könnte! Oder sogar weitgeschnittene Sachen in Größe 36 .
Die Tür zum Büro stand offen. Susanne trat ein. »Ich nehme eine Tasse Kräutertee, wenn Sie haben. Pfefferminz. Besser Eisenkraut.« Sie schob den Sportbuggy mit ihrer schlafenden Tochter neben den Gummibaum und ließ sich auf der dunklen Ledercouch nieder.
»Also … wirklich … so geht das nicht«, protestierte Dr. Honeff halbherzig, aber da wusste er ja noch nicht, mit wem er es zu tun hatte.
»Sie sind mir empfohlen worden«, sagte Susanne, streckte sich auf der Couch aus und seufzte schwer. »Von meiner Cousine. Glauben Sie mir, ich bin nicht freiwillig hier. Die Polizei zwingt mich.«
Honeff stand unschlüssig auf der Schwelle zu seinem Büro.
»Das geht nicht gegen Sie. Sie sollen ja gut sein.«
Susanne musterte ihn. Kompetent sah er ja nun wirklich nicht aus, aber so sehr viele von seiner Sorte gab es in der Stadt nicht, und sie hatte weiß Gott keine Lust, alle durchzuprobieren.
»Der Tee!«, rief sie ihm in Erinnerung. »Und dann fangen wir am besten gleich an. Je eher das alles vorbei ist, desto besser.«
Dr. Honeff ergab sich in sein Schicksal. Gegen starke Frauen war er noch nie angekommen. Gegen starke Männer auch nicht. Deswegen hatte er sich ja auch für seinen Zweig des Berufsstandes entschieden. Da hatte er mit keinem von beiden zu tun.
Normalerweise jedenfalls nicht.
Er ging zu seinem Schreibtisch, goss den restlichen Inhalt seiner Thermoskanne in einen unbenutzten Becher und reichte ihn Susanne.
»Bäh!«, rief sie nach nur einem Schluck.
»Heißes Ingwerwasser. Gut für das Immunsystem.« Honeff guckte beleidigt.
Susanne zog die Nase kraus und kippte den Becherinhalt in den Gummibaum.
Honeff guckte noch beleidigter, sagte aber nichts, sondern setzte sich auf seinen ergonomischen Schreibtischstuhl und rückte seine Brille zurecht. »Was ist denn so dringend?«
»Man wirft mir vor, dass ich ihn geschlagen habe. Ich! Ihn!
Geschlagen!
« Die Ungeheuerlichkeit trieb Susannes Stimme jedes Mal von neuem nach oben.
Ola-Sanne, die mittlerweile aufgewacht und von Susanne neben sich auf die Couch gebettet worden war, rief bekräftigend: »Eine Unverschämtheit sondergleichen!« Vielleicht nicht mit diesen Worten, und in Honeffs Ohren klang es eher wie »dadadadada«, aber als Mutter spürte Susanne natürlich genau, was ihre Tochter eigentlich damit zum Ausdruck bringen wollte.
»Noch nie in meinem Leben habe ich Hand an Olaf gelegt! Also … zumindest nicht so. Und auch nie gegen seinen Willen.« Susanne pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Hat das bei Olaf zu Gewalttätigkeit geführt?«, hakte Honeff nach und wunderte sich über den doch eher ungewöhnlichen Namen.
»Nein, er ist ein ganz Lieber.«
»Dadada«, bestätigte Ola-Sanne.
»Verweigert Olaf sein Fressen?« Honeff kritzelte etwas auf sein Klemmbrett.
Susanne stutzte nur ganz kurz. »Nein, er isst normal.«
»Dadada«, fand auch Ola-Sanne.
»Die Anschuldigungen sind also haltlos?«
»Absolut! Und was ich jetzt von Ihnen brauche, ist so eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung zur Vorlage bei der Polizei. Und für den Anwalt, den ich mir nehmen muss, falls diese unsägliche falsche Schlange namens Genschwein ihre Anzeige nicht zurückzieht. Und natürlich sollten Sie mir haufenweise Pillen verschreiben, zur Sicherheit.«
»Dafür müsste ich zuerst Olaf sehen«, wandte Dr. Honeff ein.
»Wieso das denn? Ich dachte, es reicht, wenn Sie mich über meine Kindheit ausfragen und über traumatische Erlebnisse während meiner Studienzeit.« Susanne richtete sich auf. Sie zog ein vom Laufschweiß durchweichtes Stück Papier aus ihrem Dekolleté, auf dem sie alle verstörenden Erlebnisse seit ihrer Grundschulzeit festgehalten hatte. Susanne kam immer gerne gut vorbereitet. Es waren nicht viele Stichpunkte. Wer ein so stabiles
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