Fingermanns Rache
Vorderfront wurde von einer ausladenden Treppe beherrscht, die zum Haupteingang führte. Vom an die Rückseite angrenzenden Wald waren nur die Baumspitzen zu sehen. Bakker fuhr langsam die unbefestigte Zufahrtstraße entlang und wich verschiedenen Schlaglöchern aus. Rechts vom Hauptgebäude befand sich, etwas tiefer gelegen und in respektvollem Abstand, das Haus der Betreuer. Bakker parkte davor.
»Sieht ziemlich unbewohnt aus«, sagte er.
Marion nickte. Alle Fensterläden waren geschlossen, das Gartenbeet verwildert. Da die Klingel nicht funktionierte, klopfte Bakker heftig gegen die massive Eingangstür. Im Haus tat sich nichts. Als auch nach mehrmaligem Rufen niemand kam, öffnete Bakker die unverschlossene Tür.
Im Haus herrschte ein diffuses Licht. Die Luft war abgestanden. Eine ausgetretene Steintreppe führte hinauf ins Erdgeschoss, wo sich vier Wohnungen befanden. Neben einer Tür stand ein Korb, der mit verblassten Stoffblumen gefüllt war. Es war die einzige Tür mit Namensschild.
»Miriam Eisen«, las Marion im Halbdunkeln und klopfte. Dielen knarrten, dann öffnete eine kleine, zierliche Person, die zu Marion aufschaute.
»Bin ich zu spät?« Die Stimme der Frau zitterte ein bisschen.
Grau. Das war das Erste, was Marion auffiel, als sie die Frau erblickte. Nicht nur deren Haare waren grau, nein, auch die Kleidung, die Haut, die Augen, selbst die Stimme. »Frau Eisen?«
»Ich bin sonst nie zu spät, nicht ein Mal in fünfundvierzig Jahren. Aber jetzt haben die Russen meinen Wecker geklaut. Wie soll man da pünktlich sein?« Miriam Eisen suchte in den Augen ihrer Besucher nach einer Antwort, fand aber keine. Sie drehte sich um und ging in ihre Wohnung. Um ihre Schultern trug sie ein wollenes Cape, das sie mit den Händen zusammenhielt.
Marion und Bakker folgten ihr. Der lange Gang, der zum Wohnzimmer führte, war eine einzige Bildergalerie. Unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, alle gerahmt, bedeckten die Wand. Die Bilder zeigten fast ausschließlich Kinder, nur bei den großen Gruppenaufnahmen standen ein oder zwei Erwachsene an der Seite.
Im Wohnzimmer der gleiche Anblick. Gerahmte Kindergesichter bis an die Decke. Die meisten ernst, manche lachten, doch ihr Lachen konnte das allgegenwärtige Grau nicht vertreiben. Miriam Eisen setzte sich. Ein Tisch mit vier Stühlen stand unter dem verdunkelten Fenster, das den Tag nur erahnen ließ.
»Dann machen wir die Besprechung eben hier«, sagte sie.
»Die Besprechung?« Marion setzte sich vorsichtig. Selbst Bakker verzichtete auf seine üblichen Kommentare.
»Ja, wegen der Neuzugänge.«
»Frau Eisen, wir sind von der Polizei«, sagte Marion behutsam.
»Polizei?« Im Gesicht der Frau arbeitete es, dann sagte sie: »Natürlich, die Polizei. Sie kommen wegen meines Anrufs.«
»Ja«, entgegnete Marion erleichtert.
»Es ist der Reim. Das Gedicht vom Fingermann. Ich weiß nicht, ob es richtig war.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Brücke. Das war eine gute Anstalt. Den Kindern ging es gut bei uns. Ich liebe Kinder.« Für einen Augenblick leuchteten Miriam Eisens Augen auf, um dann wieder das Grau ihrer Umgebung anzunehmen. »Wissen Sie, Kinder sind nicht immer einfach. Gerade die, die ohne Eltern aufwachsen müssen. Die haben es schwer, die brauchen Führung. Und Führung hat ihnen Dr. Kronthal gegeben.«
»Können Sie da nicht ein bisschen genauer werden?« Bakker meldete sich zum ersten Mal zu Wort. Seine Stimme dröhnte.
Erschrocken führte Miriam Eisen ihre Hand zum Mund. Ihre Lippen umschlossen ihren Daumen, den sie sofort wieder herausnahm. »Keine Angst«, sagte sie, »ich kaue nicht an den Fingernägeln.«
»Da sind wir aber froh«, sagte Bakker irritiert.
Völlig überraschend sprang Miriam Eisen auf. »Sie wollen sicher etwas trinken.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Wohnzimmer und ging in die Küche.
»Die tickt wirklich nicht ganz richtig«, stellte Bakker fest.
Marion entgegnete: »Dennoch kann sie uns weiterhelfen. Vielleicht wäre es klüger, wenn ich das Gespräch weiterführe. Sie scheint Angst vor dir zu haben.«
Bakker nickte. Die zierliche Frau kehrte mit einem Tablett und zwei Thermoskannen zurück.
»Die mache ich schon am Morgen. Man weiß nie, wer zu Besuch kommt. Also, was wollen Sie? Pfefferminz-oder Hagebuttentee?«
Marion nahm Pfefferminz-, Bakker nach längerem Zureden Hagebuttentee.
»Der wird Ihnen guttun«, sagte Miriam Eisen. »Männer wie Sie sollten öfter Hagebuttentee trinken. Ich
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