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Fingermanns Rache

Fingermanns Rache

Titel: Fingermanns Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Weiglein
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bevorzuge Pfefferminz.«
    Bakker nippte an seiner Tasse und verzog das Gesicht. Marion nahm ihrerseits einen Schluck und fragte vorsichtig: »Wollen Sie uns jetzt vom Fingermann erzählen?«
    Miriam Eisen seufzte und schaute in die Ferne. Tonlos sagte sie: »Manche Kinder wollten einfach nicht hören. Die waren so bockig, die haben das Kollektiv durcheinandergebracht. Und der Herr Doktor, der hat auch Psychologie studiert. ›Angst ist ein gerechter Schulmeister‹, hat er immer gesagt, ›denn Angst haben nur die, die etwas zu befürchten haben.‹«
    »Sie haben den Kindern mit dem Reim Angst gemacht?«
    »Ja«, flüsterte Miriam Eisen. »In jedem Zimmer war er an die Wand geschrieben. Mit einer Farbe, die in der Nacht leuchtete.«
    Marion und Bakker tauschten Blicke aus. Beide dachten an den letzten Zeitungsartikel. Marion fuhr fort: »Haben die Kinder daran geglaubt?«
    »Die jüngeren schon. Bei den älteren gab es immer wieder Probleme, da hat man nachgeholfen.«
    »Wie nachgeholfen?«
    »Es gab Unfälle.« Miriam Eisen verschluckte sich. Stark hustend stand sie auf. Marion klopfte auf ihren Rücken. Die alte Dame atmete mehrmals tief durch. Plötzlich hielt sie inne und sagte: »Das Telefon, das Telefon hat geläutet.«
    Marion und Bakker schauten sich an – sie hatten beide nichts gehört. Miriam Eisen eilte aus dem Zimmer.
    »Da bin ich mal gespannt«, sagte Bakker, »die Alte hat doch gar keinen Anschluss.«
    »Es war Dr. Kronthal«, erläuterte Miriam Eisen, als sie wieder am Tisch saß. »Er hat mir noch einmal bestätigt, dass es Unfälle waren.«
    »Wollen Sie über die Unfälle sprechen?«, fragte Marion.
    »Eigentlich nicht.« Ihre Augen irrten hin und her.
    »Vielleicht kommen wir später darauf zurück«, beruhigte Marion sie. »Sagt Ihnen der Name Wilbur Arndt etwas?«
    »Wilbur Arndt.« Ihre Unsicherheit war wie weggeblasen. »Geboren 1953, stimmt’s?«
    Marion nickte. Ihre Aufregung ließ sie sich nicht anmerken. Endlich eine Spur, dachte sie.
    »Kommen Sie«, forderte Miriam Eisen sie auf. Sie ging den Gang entlang und zählte von siebenundsechzig rückwärts bis dreiundfünfzig, dann blieb sie stehen. »Hier«, sagte sie und deutete auf ein Foto, das zwei Kinder zeigte.
    »Einer von beiden ist Wilbur«, stellte Marion fest.
    Miriam Eisen nickte verträumt.
    »Und welcher?«
    »Der Kleinere mit dem ernsten Gesicht.«
    Marion betrachtete das Bild eingehend: zwei Jungs, ungefähr dreizehn Jahre alt, die Arme gegenseitig um die Schulter gelegt. Der eine lachte herausfordernd in die Kamera, der andere schaute kritisch, fast schon ängstlich. Eine Ähnlichkeit mit dem heutigen Arndt konnte sie kaum erkennen. Die Lippen vielleicht. Mehr aber auch nicht. Marion zückte ihr Handy. »Wenn Sie gestatten, werde ich das Bild abfotografieren.«
    Miriam Eisen stimmte abwesend lächelnd zu.
    »Wie heißt eigentlich der andere?«, fragte Marion.
    »Johannes Berg. Er war ein Wildfang. Er hatte immer Unsinn im Kopf, aber er war auch begabt. Klavier konnte er spielen; er konnte so schön spielen. Doch diese ständige Disziplinlosigkeit, das Auflehnen gegen die Ordnung. Dr. Kronthal musste ihn so oft maßregeln. Und dann kam der Unfall.«
    »Was für ein Unfall?«
    »Wir hatten eine Stanzerei, in der die Kinder arbeiten durften.«
    »Sie durften arbeiten?«
    »Eine erzieherische Maßnahme. Wer gut arbeitete, bekam Vergünstigungen.«
    »Und Johannes?«
    »Johannes hat nicht aufgepasst. Er hat einen Finger verloren. Mit dem Klavierspielen war es danach aus. Das hat er nicht verkraftet.«
    »Natürlich war es ein Unfall«, warf Bakker ein.
    »Ja, was denken Sie denn?«
    »Ich denke, dass Wilbur Arndt auch ein Finger fehlt.«
    »Dr. Kronthal hat mir versichert, dass es Unfälle waren. Er ist ein Ehrenmann«, sagte Miriam Eisen mit sich überschlagender Stimme. Sie stützte sich an der Wand ab, ihr Atem ging schnell.
    »Beruhigen Sie sich. Ich glaube Ihnen.« Marions Worte hatten heilende Wirkung. Miriam Eisen entspannte sich. Marion strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und erntete ein verschüchtertes Lächeln.
    »Können Sie uns sagen, was mit Johannes Berg weiter geschehen ist?«, fragte Marion sanft.
    Miriam Eisen blickte traurig. »Der arme Junge ist ein halbes Jahr später an Gehirnhautentzündung gestorben. Wilbur hat das damals kaum verwunden. Die beiden waren bis dahin unzertrennlich. Wilbur hat sich zurückgezogen, er hat auf niemanden mehr gehört. Erst Dr. Kronthal hat ihn wieder auf den rechten Weg

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