Fingermanns Rache
erkennen? Hat man sie möglicherweise zu diesem Brief gezwungen?«, fragte er verzweifelt.
Seufzend entgegnete Westermark: »Die Handschrift ist flüssig, das Schriftbild klar. Hierin kann ich keine Anzeichen von Zwang erkennen. Was die Formulierungen betrifft, ist es schwer, eine Aussage zu machen. Jedoch entsprechen sie Cordulas Stil. Vielleicht ist ihr ja alles über den Kopf gewachsen. Vielleicht braucht sie ein bisschen Abstand.«
»Abstand. Abstand wovon? Wir waren doch glücklich.«
Schortens Blick fiel auf die Zeile, die ihn am meisten getroffen hatte: »Unser Leben war doch keins«, stand in sauberer Schrift auf dem Papier. »Das kann sie unmöglich geschrieben haben«, schluchzte er.
Westermark zuckte hilflos mit den Schultern.
Schorten atmete tief durch und sagte: »Wenn ich jetzt nicht dein Freund wäre, wenn es sich hier um ein ganz normales Gutachten handeln würde, wie würde dein Urteil ausfallen?«
Westermark lehnte sich zurück und sagte: »Nüchtern betrachtet, handelt es sich hier um einen wohlüberlegten Brief, der in aller Ruhe geschrieben worden ist. Inhalt und Aussage sind so gewollt. Eine Einflussnahme durch Dritte ist auszuschließen.«
Schorten schloss die Augen und nickte – einmal, zweimal –, dann straffte er sich und sagte: »Gut. Man muss die Welt nehmen, wie sie ist. Das Prinzip von Ursache und Wirkung gilt immer, und ich werde aufklären, was Cordula zu diesem Schritt gebracht hat. Ich werde ihr Motiv herausfinden.«
»Du willst was?« Westermark blickte ungläubig. »Aber Bernhard, du kannst das doch nicht wie einen neuen Fall behandeln. Hier geht es um deine Ehe, um Gefühle.«
»Wo Gefühle herrschen, versagt der Verstand. Ich kann Cordulas Abschied so nicht akzeptieren. Es gibt keinen rationalen Grund für ihr Verhalten.«
»Menschen handeln selten rational, besonders nicht in Beziehungen.«
»Du kennst Cordula nicht gut genug. Sie ist ein Vernunftmensch.«
Westermark machte eine hilflose Geste, und Schorten stand auf. »Vielen Dank für dein schnelles Kommen, Magnus. Ich bitte dich, die Sache für dich zu behalten. Vorerst soll keiner davon erfahren.«
Nachdem Schorten Westermark hinauskomplimentiert hatte, rief er sich den Streit mit Wilbur Arndt in Erinnerung. Die Andeutungen über seine Ehe und dass jeder Mensch einen schwachen Punkt habe. Den Obdachlosen mit dem Verschwinden seiner Frau in Verbindung zu bringen, war mehr als abenteuerlich, das war Schorten bewusst. Dennoch war es für ihn ein Hoffnungsschimmer. Es fiel ihm leichter, seine Frau als Teil einer Verschwörung zu sehen, als zu akzeptieren, dass sie ihn verlassen hatte. Diese Sichtweise gab ihm neue Kraft; er hatte nun eine Aufgabe, und er brauchte mehr Informationen. Schorten wählte die Nummer seiner Tochter.
»Papa, was willst du denn?«, klang es ungehalten aus der Leitung.
»Es ist etwas Unvorhergesehenes passiert.«
»Das gibt es manchmal. Kannst du ein bisschen deutlicher werden?«
»Deine Mutter ist verschwunden.«
»Wie, verschwunden?«
»Sie hat mich verlassen.« Schortens Stimme zitterte. Nur mit Mühe konnte er ein Schluchzen unterdrücken. »So steht es zumindest in ihrem Abschiedsbrief«, ergänzte er schnell.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fragte Maike: »Hat sie einen Grund genannt?«
»Mehrere. Aber keiner entspricht ihrem Naturell. So ist sie nicht.«
»Was weißt du schon von Mutter?«
»Genug, um zu wissen, dass sie zufrieden war. Es ging ihr gut, auch finanziell. Wir hatten beide die gleiche Lebensauffassung. Das alles wirft man nicht einfach weg.«
»Du kennst sie nicht. Du hast sie noch nie so gesehen, wie sie ist.«
»Was soll das? Du redest wie Magnus.«
»Der Grafologe? Du hast ihm doch nicht etwa den Brief gezeigt?«
»Natürlich, ich musste doch wissen, ob er echt ist.«
»Genau das ist es.« Die Stimme Maikes wurde schneidend. »Bevor du an dir zweifelst, zweifelst du an allem anderen. Aber eure Ehe war nicht perfekt. Sie war eine Zweckgemeinschaft.«
»Das darfst du nicht sagen, das stimmt nicht.«
»Oh, Vater. Du machst dir noch immer etwas vor. Diese Ehe, unser angebliches Familienglück – alles nur Fassade. Mutter war nie eine Mutter. Sie ist dafür nicht geeignet, weil sie nicht wie andere Menschen ist. Sie hat keine Gefühle. Sie ist eiskalt.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Schorten versuchte das schon oft Gehörte zu verdauen. Seine Tochter erging sich wieder einmal in ihren pubertären Vorwürfen.
Maike
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