Finnisches Requiem
Gadd und Imre Csermák gar nicht bei »Magyar Nemzet« beschäftigt waren, hatte sie im Internet herausgesucht, ob derartige Namen überhaupt existierten. Die Männer mußten die Namen ja aus irgendeinem Grund gewählt haben. Es stellte sich heraus, daß Imre Csermák ein ziemlich häufiger ungarischer Name war, aber die Suche nach Alexander de Gadd brachte nur einen Treffer.»Die Überschrift der Seite lautete: ›Der vergessene Nationalheld‹.«
»Warum hast du nicht schon gestern Kontakt zu der ungarischen Zeitung aufgenommen?« fuhr Wrede sie an.
Kuurma versuchte zu lächeln. »Die renommierte Zeitung hatte bestätigt, daß de Gadd und Csermák für sie arbeiten. Ich konnte doch die Zuverlässigkeit dieser Mitteilung nicht in Zweifel stellen.«
Ketonen kehrte zum Ausgangspunkt zurück: »Erzähle noch mehr über Hohenthal.«
Kuurma las aus ihren Notizen vor, daß Lennart Hohenthal aus Nivala stammte, Fennomane und Mitglied der Kampforganisation der Aktivistischen Widerstandspartei war. Der von Hohenthal ermordete Prokurator Soisalo-Soininen hingegen galt als Vertreter der Politik der Nachgiebigkeit gegenüber Rußland und wurde als Statthalter der unrechtmäßigen russischen Verwaltung angesehen. Bei der Ausweisung der Konstitutionalisten und bei anderen gegen Finnland gerichteten Maßnahmen wirkte der Prokurator als Berater des russischen Generalgouverneurs. Kuurma räusperte sich und griff nach ihrem Wasserglas.
Ungeduldig gab Ketonen ihr ein Zeichen fortzufahren.
Kuurma las vor, daß Hohenthal in St. Petersburg gewesen war und sich eine russische Gardeoffiziersuniform anfertigen ließ. Am Morgen des 6. Februar 1905 fuhr er mit einer Droschke zur Wohnung des Prokurators Soisalo-Soininen auf dem Bulevardi in Helsinki und reichte dem Polizisten, der die Tür öffnete, seine Visitenkarte: »Alexander de Gadd. Lieutenant de la Garde, St. Petersburg.« Hohenthal erschoß den Prokurator, wurde in dem Feuergefecht verwundet und gefangengenommen. Noch im selben Jahr floh er über Schweden nach England, wo er 1951 starb. Aus irgendeinem Grunde wurde er nie zum Nationalhelden wie Eugen Schauman, der Mörder des Generalgouverneurs Bobrikow.
»Einer der Mörder aus dem Atheneum hat denselben Decknamen benutzt wie Hohenthal!« rief Ketonen erregt und fragte dann besorgt: »Was sagt uns das?«
Ratamo stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. »Irgendein Finne war an der Planung des Mordes beteiligt. Kein Ausländer würde zufällig den Namen Alexander de Gadd wählen.«
»Möglicherweise wird mit dem Mord an Reinhart ein politisches Ziel verfolgt, so wie mit dem Mord an Soinisalo-Soininen. Vielleicht ist das ein politischer Terroranschlag«, ergänzte Wrede.
Die Mitarbeiter der SUPO schwiegen und dachten über das Gesagte nach. Schließlich nickte Ketonen seinen Kollegen zu.
Kuurma nahm ein Blatt und buchstabierte wie ein ABC-Schütze: »NEM-ZET BIZ-TON-SÁ-GI HI-VA-TAL, das heißt, der ungarische Sicherheitsdienst NBH befragt gerade das Personal der Zeitung ›Magyar Nemzet‹. Vielleicht findet der NBH etwas heraus.«
»Was gibt es sonst noch über Ungarn zu berichten?« drängte Wrede.
Jetzt war Ratamo an der Reihe. »Ich habe vom NBH einen Überblick über die politischen Parteien des Landes erhalten. Demnach ist der einzige politische Verdächtige in Ungarn die extrem nationalistische Partei der Gerechtigkeit und des Lebens MIÉP.« Ratamo ordnete einen Augenblick lang seine Notizen. Aus ihnen ging hervor, daß die populistische MIÉP für ihre fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt war. Sie galt auch als Gegner der Globalisierung, der NATO-Mitgliedschaft Ungarns und des Beitritts zur EU.
Ratamo übersetzte den englischsprachigen Bericht im stillen, bevor er fortfuhr. Brüssel sowie die Politiker und die Presse Ungarns befürchteten, daß es der MIÉP gelingen könnte, die angestrebte EU-Mitgliedschaft Ungarns zu erschweren.Nach dem Bericht des NBH förderte die politischsoziale Atmosphäre in Ungarn den Rechtspopulismus: Die meisten Wähler erinnerten sich noch an die sowjetische Besatzungszeit, und die Kluft zwischen arm und reich blieb tief.
Plötzlich mußte Ratamo lachen. »Dann habe ich hier ein langes Datenprofil des Führers der MIÉP, des Schriftstellers István Csurka. Auf dem Bild erinnert der Mann eher an einen Freistilringer als an einen Schriftsteller. Csurka hat umgehend jede Beteiligung der MIÉP an dem Mord bestritten.«
»Es ist ja immerhin möglich, daß Anhänger der MIÉP ohne
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