Finsterwald: Fantasy-Roman (German Edition)
gegenseitig rufen.«
Kiaras Blick ging von Mikhail zu Tris. »Vyrkin?«
Mikhail grinste und zeigte seine langen Augzähne. »Formwandler aus dem Wolfsclan. Freunde von Lord Gabriel. Keine Sorge, die wirklichen Wölfe halten Abstand, solange die Vyrkin in der Nähe sind.«
Ein angewärmtes Metallkistchen voller Glut nahm die Kälte aus dem Inneren der Kutsche. In der Dunkelheit kuschelte sich Tris nah an Kiara. Der Kutscher knallte mit der Peitsche und der Wagen fuhr durch den Schnee los. Neben ihnen und um sie herum konnten sie die Hufe der berittenen Wachen durch das Eis brechen hören.
»So viel zum Thema Durchbrennen«, witzelte Tris nervös. Kiara sah aus dem Fenster auf die mondbeschienene Straße, die an ihnen vorbeiflitzte. »Es ist schwer, sich vorzustellen, dass wir das Schloss mit weniger Soldaten erobert haben.«
Tris konnte aus ihrer Stimme die gleiche Unruhe hören, die er auch fühlte, und drückte ihre Hand. »Nur noch ein wenig länger, dann haben wir die Zeremonien hinter uns. Versprochen.«
Sie lächelte zurück und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Tris wünschte sich, dass er sich selbst auch beruhigen konnte. Er sah in düsterer Vorahnung aus dem Kutschenfenster, gespannt, obwohl er wusste, wie schwer sie bewacht waren. Ban hat mich so weit, dass ich jetzt Gespenster sehe.
Die Kutsche hielt vor dem Eingang zur Grotte der Lady. In seiner Verehrung für diese zwei bestimmten Aspekte der Lady war Margolan einzigartig in den Winterkönigreichen: Die Mutter und das Kind. Und während Tris dank seiner Reisen im letzten Jahr und seiner Rolle als Seelenrufer klar war, dass alle Aspekte nur Facetten der einen Göttin waren, waren ihm im Herzen die Mutter und das Kind am nächsten.
Selbst im Winter war die Grotte wunderschön. Als das erste Licht des Morgens durch die Schatten drang, sah Tris über den unberührten Schnee. Er hatte die Grotte schon in ihrer vollen Schönheit gesehen, wenn die Sommerblüten im Überfluss herabtrudelten und die hohen Bäume dunkelgrünes, dichtes Laub trugen. Jetzt lag eine klare Schönheit in den nackten, großen Bäumen, die die Auffahrt säumten und deren graue Zweige sich darüberwölbten. Im Sommer waren die Gärten, die dem Kind gewidmet waren, voller Blumen und Büsche und Schwärme von weißen Tauben saßen in den Zweigen der Bäume.
Die Auffahrt endete in einer tiefen Schlucht zwischen zwei Hügeln, deren Wände aus Schiefer bestanden. Im Frühjahr würden die Büsche, die überall die Abhänge bedeckten, bunte Blüten tragen, aber jetzt war das Durcheinander der Zweige an den Spitzen voller Raureif, der im Morgenlicht glitzerte. Links von ihnen bildeten vier weiße, aus Stein gehauene Säulen einen Halbkreis um einen detailreich gearbeiteten Springbrunnen und rechts floss kaltes Wasser unter einer Eisdecke einen Wasserfall hinunter in viele Kanäle und Teiche, die den Garten verzierten. Wasser war der Mutter so heilig wie Blumen dem Kinde. Im Frühling würden die Pilger kommen und Blütenblätter in das fließende Wasser werfen, um die Göttin zu ehren, und bunt verzierte Papierdrachen mit Schwänzen aus zerschnittenem Band fliegen lassen, die für Gebete für die Dahingeschiedenen standen. Doch jetzt war es in der Grotte still.
Tris nahm Kiaras Hand, als sie aus der Kutsche stiegen. Seine Stiefel knirschten auf dem Schnee, als sie sich auf den Weg zum Tempel der Lady machten. Jedes verlobte Paar in Margolan brachte ein Opfer dar, bevor es sich das Jawort gab, auch wenn nur wenige zum Tempel der Lady pilgerten. Die meisten brachten ihre Opfer in die kleinen Schreine, die an den Straßenrändern standen, oder gleich in den eigenen Hausaltar. Für den König allerdings war das nicht so einfach.
Trügerisch dünne, weiße Marmorsäulen stürmten den Himmel, ihre Spitzen bildeten eine zerrissene Silhouette gegen den blassrosa Sonnenaufgang. Auf jeder Seite des Eingangs stand eine überlebensgroße Alabasterstatue: eine von der Mutter und eine vom Kinde. Unter den Bögen sprang Wasser die schulterhohen Marmorwände herab; in der bitteren Kälte konnte Tris die leichte Spur der Magie spüren, die dafür sorgte, dass das Wasser gleichmäßig floss. Hinter dem doppelten Bogen lag die äußere Kammer, in der die Wachen warten würden. Als sie durch den Torbogen gingen, wurde es wärmer und wieder spürte Tris die Magie, die dem Tempel diente, auch wenn die Ministranten der Lady nicht zu sehen waren. Sie legten ihre schweren Mäntel beiseite. Große
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