Firelight 1 - Brennender Kuss (German Edition)
ist klar, dass diese Sache eine ganz andere ist, aber ich kann mir nicht helfen und denke: Warum interessiert es sie nicht, was ich will?
Mum nickt, müde und geschlagen. »Na schön.«
Und in diesem Augenblick fühle auch ich mich geschlagen.
Seit Will fort ist, verläuft mein Leben in stillen, geregelten Bahnen: Schule, Abendessen mit Mum, Hausaufgaben, Musik hören und Fernsehen mit Tamra.
Ich laufe durch die Schulflure wie ein gut funktionierender Roboter, während mein Draki immer schwächer wird. Er leidet lautlos und entschwindet Stück für Stück in die Dunkelheit. Wie eine offene, noch verheilende Wunde pocht er weniger, schmerzt weniger, empfindet weniger. Dabei will ich sie unkontrolliert aufreißen, die Wundränder weit aufklaffen lassen, sie zum Bluten bringen – sie dazu bringen, sich zu erinnern.
Am Freitag überlege ich, ob Will vielleicht etwas zugestoßen ist. Beinahe jede Sekunde frage ich mich, wo er ist, wo er jagt. Mein Rudel ist nicht das einzige da draußen, aber wir bleiben unter uns, deshalb weiß ich nicht, wo die anderen leben – und wo Will jetzt sein könnte.
Es ist nicht richtig von mir, aber ich hoffe, dass seine Familie es auf ein anderes Rudel abgesehen hat. Ich will, dass die, die ich zurückgelassen habe, in Sicherheit sind. Az, Nidia, sogar Cassian.
Aber immer wenn Will ins Spiel kommt, spielen meine Gefühle völlig verrückt. Einerseits will ich, dass er sicher zurückkommt, andererseits bete ich, dass jeder Draki, den er jagt, frei und unbeschadet bleibt. Und beide Wünsche widersprechen sich, wie die Erfahrung lehrt.
Ich rede mir ein, dass es meinem Rudel gut geht. Immerhin gehören wir nicht zu den schwachen Spezies. Wir haben besondere Fähigkeiten und Kräfte. Wenn harmlose Wanderer sich in Nidias Nebel verirren, löscht sie ihre Erinnerungen und führt sie wieder auf den richtigen Weg. Aber Jäger?
Ich krümme mich innerlich. Das gehört zu den Angelegenheiten, über die wir nie gesprochen haben, über die aber jeder Bescheid weiß. Das Rudel muss um jeden Preis beschützt werden. Und selbst wenn Nidia einem Jäger das Gedächtnis vernebelt und er so unsere Siedlung nicht mehr finden könnte, würde er noch immer eine Gefahr darstellen.
Eine Gefahr, die unschädlich gemacht werden muss.
Früher habe ich nie etwas Falsches darin gesehen, vor allem nach der Sache mit Dad. Aber jetzt …
Jetzt sehe ich nur Wills Gesicht vor mir. Allein der Gedanke daran, dass ihm etwas zustoßen könnte, dreht mir den Magen um und es tut mir leid um den Jungen, der mich verschont hat. Der Junge, der so schön ist, dass er mir wie ein weit entfernter Traum vorkommt, völlig unmöglich, jetzt, da ich ihn schon so viele Tage nicht mehr gesehen habe.
»Hi, Jacinda!«
Erschrocken blicke ich auf. Vor mir erblicke ich ein bekanntes Gesicht – ich glaube, sie geht in meine Englischklasse.
»Hey.« Ich nicke ihr zu, erinnere mich aber leider nicht an ihren Namen.
Als ich weiter den Flur entlanglaufe, bemühe ich mich, wieder klar zu werden und den Autopiloten abzustellen. Ich bin schon wie die Wüste, die mich auf allen Seiten umgibt: trocken und ausgebrannt, daran gewöhnt, in einem trostlosen Zustand dahinzuvegetieren.
Das ist es, dieses ewig gleiche Muster, das mir Sorgen macht. Der einlullende Sog der Gleichgültigkeit, die mich zu ertränken droht. Mum hat recht. Nichts tötet einen Draki so schnell wie eine öde Umgebung.
So kann das unmöglich weitergehen! Ich darf hier nicht bleiben. Ich muss einen Ausweg finden! Muss fliegen – es zumindest versuchen!
Bevor ich zu Mr Henke in die Freistunde gehe, atme ich noch ein letztes Mal tief durch. Heute hatten wir ohne die Jungs Sport, weil sie im Kraftraum waren, während wir in der Turnhalle ein Übungsspiel hatten. Ich weiß also nicht, ob Will zurück ist, aber ich rede mir ein, dass das auch keine Rolle spielen sollte. Ich darf nicht mit ihm ausgehen und mich noch viel weniger auf ihn verlassen! Und daran werde ich mich ab sofort halten.
Große Worte. Ich komme mir vor wie der letzte Heuchler. Denn trotz meines Schwurs, ihn zu vergessen, gelingt es mir nicht. Ich erinnere mich an jedes Detail und ich vermisse ihn. Spüre seine Abwesenheit wie die des bewölkten Himmels, des Nebels und der lebendigen Erde, die ich verloren habe. Warum spukt er mir immer noch durch den Kopf? Noch dazu, wo ich weiß, dass er ein Jäger ist und dass ich ihn meiden muss?
Auf meinem Weg ins Klassenzimmer bleibe ich wie angewurzelt stehen,
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