Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
ehrlich gesagt, ich glaube, du hast dich schon entschieden.«
Tiziana schaute mich nur an. Keine Ahnung, ob sie wirklich noch unschlüssig war und wollte, dass ich ihr die Entscheidung abnehme.
»Nein«, sagte sie, aber mit einem Fragezeichen am Ende. Nein?
»Ich glaube schon.«
»Meinst du?«
»Ja, Tiziana, ich denke schon.«
»Ich weiß es wirklich nicht, Fiorenzo. Aber wenn es so wäre, ich meine, wenn . Könntest du mich dann verstehen?«
Ich antwortete nicht. Sie verstehen? In dem Moment verstand ich nicht mal, wo ich war, wie sollte ich da sie verstehen? Wie konnte sie es wagen, mich zu fragen, ob ich sie verstehe.
Aber als ich wieder sprechen konnte, stammelte ich: »Ich glaube schon, Tiziana. Das heißt, ich bin stinksauer, ich ärgere mich über mich selber, aber ich kann dich auch verstehen, irgendwie.«
Und dann kniff sie die Augen zusammen, zog die Mundwinkel nach unten und heulte wirklich los. Sie machte diesen einen Schritt auf mich zu, der uns trennte, und umarmte mich in einem verwinkelten Gässchen, an dessen Ende das Postamt liegt, und drückte mich so fest, dass mir die Rippen wehtaten. Aber mir tat ohnehin alles weh, also kam es darauf auch nicht mehr an.
Ich hätte die Kraft haben sollen, mich aus ihrer Umarmung zu lösen und zu sagen Nein, verdammt, ich versteh dich, aber was fällt dir ein, mich jetzt auch noch zu umarmen . Stattdessen kostete ich die Umarmung aus, ja ich schloss sogar die Augen und hatte so ein komisches Brennen hinter den Lidern, in der Kehle und der Nase. Und dann, es ist wirklich unfassbar, fing Fiorenzo Marelli in diesem dunklen Gässchen plötzlich an zu weinen. Schöne Scheiße.
Und dann drückte auch ich sie ganz fest, aus Angst, sie könnte mich loslassen und etwas merken. Ich versuchte sogar, die Luft anzuhalten, weil Schluchzer total verräterisch sind. Ich habe also auch noch geschluchzt, verdammter Mist. Der Sänger von Metal Devastation, der mit seinem Schrei die Welt zerstört, lag schluchzend in den Armen einer Frau, die im Begriff war, sich von ihm zu trennen.
Bis vor kurzem – es ist noch gar nicht lange her, höchstens ein paar Monate – hätte ich mich in so einer Situation noch tierisch geärgert und rumgeschrien, dass die Welt vor mir zittert und mich deshalb bekämpft und mir alles Pech der Welt schickt. Und dass Tiziana bloß eine arme Irre sei, die mir was Böses will, ich aber ein Krieger, an dem jede Gemeinheit abprallt und sich wieder in die Hölle verpissen muss, wo sie hergekommen ist.
Aber gestern Abend war es anders, ganz anders. Gestern Abend drückte Tiziana mich fest an sich, und ich drückte sie fest an mich, und so blieben wir eine Weile stehen, wie lange, weiß ich nicht, und ich wüsste auch gar nicht, wie man diese Zeit messen könnte. Es war keine Zeit, wie man sie auf der Armbanduhr, dem Wecker oder dem Kalender ablesen kann. Es war etwas ohne klare Richtung, in einer Wirklichkeit, in der eins und eins nicht zwei macht oder etwas in der Art. Es war etwas ganz anderes.
Und an einem bestimmten Punkt in dieser Wirklichkeit, in der solche Orientierungspunkte eigentlich nicht existieren, fing Tiziana plötzlich an: »Ich schwör’s dir, ich wollte wirklich nicht, ich schwör’s dir, eigentlich will ich gar nicht. Aber die Jahre vergehen, Fiorenzo, leider, das ist nun mal so. Du bist neunzehn, bald wirst du zwanzig, und denk mal, wie es sein wird, wenn du … sagen wir, fünfundzwanzig bist. Fünfundzwanzig Jahre. Glaubst du, dass du dann noch hier sein wirst, siehst du dich mit fünfundzwanzig hier? Ich nicht, ich seh dich nicht hier, aber du, du kannst jetzt noch sagen, dass du es nicht weißt, du kannst es dir leisten, abzuwarten und zu sehen, was passiert, weil dein ganzes Leben noch vor dir liegt. Du kannst eine Million Chancen an dir vorbeiziehen lassen, weil noch weitere hundert Millionen auf dich warten. Ich dagegen, ich kann nicht so tun, als ob … Vielleicht erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns kennengelernt haben, da hast du zu mir gesagt, es sei richtig gewesen, von hier wegzugehen, und falsch, zurückzukommen, und sobald du …«
»Tiziana«, sagte ich und bemühte mich, einen vernünftigen Satz herauszubringen, ohne zu schluchzen.
»Ja?«
»Könntest du bitte einen Moment still sein?«
Und dann sagte Tiziana nichts mehr. Sie lachte nur noch mal kurz auf, einmal, unter Tränen. Und wir hielten uns weiter in den Armen, denn es war das Einzige, was wir tun konnten. Und das war’s dann.
DIE
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