Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
der langen Stricknadeln bedrohte meine Halsschlagader, während die an dere eine bestimmte Stelle zwischen meinen Rippen auf die Probe stellte. Ich hätte mir beinahe in die Hosen gemacht. Denn ich hob den Blick zu einer Frau, die mir plötzlich völlig fremd war, und wagte kaum zu atmen.
»Schäm dich, den Jungen so zu erschrecken«, wies Philia sie gutmütig zurecht. »Ja, Fitz, Lacey. Die begabteste Schülerin, die Hod jemals hatte, obwohl sie als schon erwachsene Frau zu ihr kam, um sich unterrichten zu lassen.« Während Philia sprach, kehrte Lacey zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und fädelte geschickt die Nadeln wieder in ihr Strickzeug. Ich schwöre, sie ließ nicht eine Masche fallen. Anschließend sah sie mich an, zwinkerte mir zu und strickte weiter, als wäre nichts gewesen. Ich atmete tief durch.
Ein ziemlich zurechtgestutzter Assassine verließ kurz da rauf die Gemächer der beiden bemerkenswerten Frauen. Auf dem Weg zur Treppe erinnerte ich mich an Chades Worte, ich würde Lacey unterschätzen. Ich fragte mich sarkastisch, ob das sein Sinn für Humor war oder ob er mich leh ren wollte, mehr Respekt vor den scheinbar Sanftmütigen zu haben.
Dann drängten sich wieder die Gedanken an Molly in mei ne Überlegungen. Ich weigerte mich standhaft dagegen, konnte aber nicht der Versuchung widerstehen, den Kopf zu senken, um ihren
schwachen Duft an der Schulter meines Hemdes zu erschnuppern. Dann vertrieb ich das törichte Lächeln von meinem Gesicht und machte mich auf, um zu Kettricken zu gehen. Ich hatte Pflichten.
Und ich habe Hunger!
Die Stimme ertönte ohne Vorwarnung in meinem Kopf, und sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Gestern hatte ich Cub nichts zu fressen gebracht. Über die Aufregung des Tages hatte ich ihn völlig vergessen.
Ein Fastentag schadet nichts. Außerdem habe ich unter einer Ecke des Menschenhauses ein Mäusenest gefunden. Glaubst du, ich bin völlig unfähig, für mich selbst zu sorgen? Doch eine ordentliche Mahlzeit wäre nicht schlecht.
Bald, versprach ich ihm. Zuerst muss ich noch etwas anderes tun.
In Kettrickens Empfangszimmer traf ich nur zwei Pagen an, die offenbar beim Aufräumen und Saubermachen waren, doch sie kicherten nur, als ich hereinkam. Sie konnten mir keine Auskunft über die Königin geben. Als Nächstes versuchte ich mein Glück in Mistress Hurtigs Webzimmer, da es ein freundlicher, sonniger Raum war, in dem die Burgfrauen gerne zusammensaßen. Nicht Kettricken, aber Lady Modeste war dort. Sie sagte mir, Ihre Hoheit habe geäußert, sie wolle an diesem Vormittag mit Prinz Ve ritas sprechen. Vielleicht war sie bei ihm.
Veritas wiederum befand sich weder in seinen Gemächern noch in seinem Kartenzimmer. Charim saß alleine am Tisch, blätterte in Pergamenten und sortierte sie nach Qualität. Veritas, erfuhr ich, hatte sich früh erhoben und sogleich auf den Weg zur Werft hinunter gemacht. Ja, Kettricken war hier gewesen, kurz nach Veritas’ Weggang, und nach dem Charim ihr gesagt hatte, was er wusste, ging sie ebenfalls. Wohin? Er zuckte nur mit den Schultern.
Mittlerweile knurrte mir der Magen, und ich begründete meinen Abstecher in die Küche mit der alten Weisheit, dass Klatsch
und Tratsch dort am üppigsten wucherten. Vielleicht wusste jemand, wohin unsere Kronprinzessin gegangen war. Noch bestand kein Grund zur Sorge, sagte ich mir. Noch nicht.
Die Küche von Bocksburg entfaltete ihre größte Anziehungskraft und Behaglichkeit an kalten und windigen Tagen. Dampf aus brodelnden Töpfen vermischte sich mit dem nahrhaften Aroma von backendem Brot und schmo rendem Bratenfleisch. Durchgefrorene Stallburschen lungerten herum, schwatzten mit den Mägden, stibitzten frische Brötchen und Käsereste, probierten den Eintopf und machten sich aus dem Staub, sobald Burrich in der Tür erschien. Ich schnitt mir ein Stück von dem kalt gestellten Pudding ab, der noch vom Frühstück übrig war, träufelte Honig darauf und legte ein paar Speckscheiben dazu, die die Köchin zum Auslassen in Würfel geschnitten hatte. Während ich aß, lauschte ich auf das, was gesprochen wurde.
Merkwürdigerweise war kaum von den Ereignissen des vorherigen Tages die Rede; wahrscheinlich brauchte man eine Wei le, um das zu verarbeiten, was auf uns eingestürmt war. Doch unterschwellig machte sich etwas wie Erleichterung bemerkbar. Ähnliches hatte ich frü her schon erlebt. So bei ei nem Mann, dem man seinen zerschmetterten Fuß amputiert hatte, oder bei der Fa milie,
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