Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
losstürmte. Ich warf schützend einen Arm hoch, doch er pflügte einfach über mich hinweg, seine scharfen Krallen bohrten sich in mein Fleisch.
Hab’ dich, hab’ dich, hab’ dich! Übermütiger Triumph.
Diesmal schaffte ich es, mich halb aufzurichten, bevor er mir gegen die Brust sprang. Ich kippte nach hinten, war aber geistesgegenwärtig genug, ihn schnell zu packen, so dass wir ge meinsam über den Boden rollten. Er zwickte mich, hierin, dorthin, schmerzhaft manchmal, und die ganze Zeit tönte seine Stimme in meinem Kopf: Spaß. Spaß. Spaß, hab’ dich, hab’ dich, hab’ dich! Hier - du bist tot, hier - dein Vorderlauf ist gebrochen, hier - dein Blut fließt, hab’ dich, hab’ dich, hab’ dich!
Genug! Genug! Und »Genug!«, brüllte ich schließlich, und er ließ von mir ab und sprang geduckt zurück. Während ich mich aufrappelte, galoppierte er wie toll durch den aufstiebenden Schnee und umkreiste mich zu ei nem neuen Angriff. Ich kreuzte die Arme vor dem Gesicht, doch er schnapp te sich den Kno chensack und ergriff damit die Flucht, was eine un missverständliche Aufforderung an mich war, ihm zu folgen. So leicht durfte ich ihm den Sieg nicht machen, deshalb stürmte ich ihm hinterher, rempelte ihn zur Seite, griff nach dem Sack, und es begann ein Tauziehen, bei dem es ihm schließlich ge lang, mich zu übertölpeln. Unvermutet ließ er los, zwickte mich so fest in den Un terarm, dass meine Hand taub wurde, und machte sich mit der Beute auf und davon. Erneut nahm ich die Verfolgung auf.
Hab’ dich. Ich zog ihn am Schwanz. Hab’ dich! Durch einen Kniestoß gegen die Schulter brachte ich ihn aus dem Gleichgewicht. Hab’ den Sack! Und ich rannte, als ginge es um mein Leben. Er sprang mir mit allen vier Pfoten in den Rücken, warf mich platt in den Schnee und entführte mir erneut den Schatz.
Ich weiß nicht, wie lange wir herumtollten. Schließlich lagen wir beide keuchend im Schnee und gaben uns ganz unserer animalischen Zufriedenheit hin. Der Sack hatte das Gezerre nicht unbeschadet überstanden. So packte sich Cub einen der Knochen, die
durch die Löcher ragten, zerrte ihn heraus und machte sich darüber her. Er riss das Fleisch herunter, nagte ihn blank und hielt ihn dann mit den Vorderpfoten am Boden fest, um die Gelenkknorpel zu zerknacken. Ich folgte seinem Beispiel, griff nach einem fleischigen Markknochen und - war plötzlich wieder Mensch. Wie das Erwachen aus einem Traum, wie das Zerplatzen einer Seifenblase. Cubs Ohren zuckten, und er wandte den Kopf zu mir, als hätte ich etwas gesagt. Aber ich hatte nicht gesprochen, nur mein Selbst von seinem gelöst. Von einem Augenblick zum anderen klapperte ich vor Kälte mit den Zähnen, Schnee taute in meinen Stiefeln, im Kragen und dem Hosenbund. An meinen Händen und Unterarmen hatte ich rote, geschwollene Striemen von den spielerischen Bissen. Mein Umhang hatte zwei Risse, und ich fühlte mich so zerschlagen, als wäre ich aus einem ohnmachtsähnlichen Schlaf erwacht.
Was ist? Aufrichtige Sorge. Warum bist du weggegangen?
Es ist nicht richtig. Ich darf nicht wie du sein. Es ist falsch.
Verwirrung. Falsch? Wenn es in dir ist, wie kann es falsch sein?
Ich bin ein Mensch, kein Wolf.
Manchmal, stimmte er zu. Manchmal das eine, manchmal das andere.
Eben das ist nicht recht. Ich will nicht so eng mit dir verbunden sein. Diese Nähe ist nicht gut. Ich muss dich in die Freiheit entlassen, in das Leben, für das du bestimmt bist. Und ich muss das Leben führen, für das ich bestimmt bin.
Ein verächtliches Zähneblecken. Wir sind, wie wir sind, Bruder. Wie kannst du behaupten zu wissen, was für ein Leben ich führen sollte, und erst recht dir anmaßen, es mir aufzuzwingen. Du bist nicht einmal imstande zu akzeptieren, was deine Bestimmung ist. Du leugnest es noch, während du es schon bist. All dein Geschwätz ist Unsinn. Ebenso gut könntest du deiner Nase verbieten zu riechen, oder deinen Ohren zu hören. Wir sind, was wir tun. Bruder.
Ich blieb standhaft und gab ihm nicht die Erlaubnis, doch er drang in mein Bewusstsein, wie der Sturm durch ein offenes Fenster fegt und einen Raum erfüllt. Die Nacht und der Schnee. Fleisch zwischen den Zähnen. Lauschen, wittern, heute Nacht ist die Welt voller Leben. So wie wir. Lass uns jagen bis zum Morgen. Unsere Augen sind scharf, unsere Kiefer sind stark, und wir können einen Bock reißen und uns am süßen, blutwarmen Fleisch laben. Hab Mut! Hab Mut zu sein, was du bist!
Einen Lidschlag
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