Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
Ich spürte es durch eine unmissverständliche Regung in meiner Brust, und ich begriff nun auch, was mich hierhergezogen hatte: Es war die winzige Perle von Veritas’ Gabe, die sich noch immer in meinem Bewusstsein verbarg. Ein Gefühl sagte mir, dass er in größter Gefahr schwebte, doch ich entdeckte nichts, wovon eine Bedrohung hätte ausgehen können. Ich sah ihn durch die Ruinen gehen und wie er gleichzeitig von den Geistern der Marktbesucher umwogt wurde. Mit schwerem Schritt ging er einsam die Straße entlang, unberührt von der unwirklichen Szene und doch darin gefangen. Gleichzeitig ragte Gefahr über ihm auf wie der Schatten eines Riesen.
Ich versuchte, ihn einzuholen, und dann war er urplötzlich an meiner Seite. »Endlich«, begrüßte er mich, »endlich hast du mich gefunden, Fitz. Willkommen.« Er hielt nicht inne in seinem Schritt und wandte auch nicht den Kopf; trotzdem spürte ich eine Wärme, als hätte er zur Begrüßung meine Hand ergriffen. Seine Begrüßung erforderte keine weitere Antwort. Stattdessen sah ich mit seinen Augen gleichzeitig die Verlockung und die Gefahr.
Vor uns floss ein Strom. Darin floss kein Wasser, darin schimmerte kein Stein. Er hatte dennoch etwas von beidem und war doch weder das eine noch das andere. Er kam aus den zerklüfteten Bergen hinter uns herangeflossen und durchschnitt die Stadt wie eine blanke Klinge, um sich in der Ferne in einen noch älteren Fluss zu ergießen. Magie. Reinste, uralte Magie strömte dort, die erhaben war über die Menschen. Der Fluss der Gabe, auf dem ich so mühsam zu navigieren gelernt hatte, verhielt sich zu dieser Macht wie der Duft des Weines zum Wein selbst. Was ich mit Veritas’ Augen erblickte, besaß eine physische Existenz, die so wirklich war wie meine eigene. Ich wurde augenblicklich davon angezogen wie die Motte von Kerzenlicht.
Es war nicht allein die Schönheit dieses schimmernden Bandes. Die Kraft der Magie durchdrang jeden einzelnen von Veritas’ Sinnen. Ihr Rauschen war wie Musik, eine Folge von Harmonien, der man gebannt und gefesselt lauschte, und das in der Gewissheit, dass sie unwillkürlich einem Höhepunkt zustrebte. Der Wind trug den flüchtigen und wechselhaften Geruch des Stroms heran. In einem Augenblick spürte man einen Hauch von Limonenblüte, im nächsten eine aromatische Melange von Gewürzen. Ich genoss ihn mit jedem Atemzug, sog in ein und empfand eine unüberwindliche Sehnsucht danach, mich hineinzustürzen.
Da blieb Veritas stehen und hob den Blick zum Himmel. Er atmete tief ein. Luft, die von der Gabe genauso erfüllt war, wie Nebel mit Feuchtigkeit getränkt ist. Dann spürte ich auf Veritas’ Zunge einen heißen, metallischen Geschmack. Seine Sehnsucht wuchs zu einer unbeherrschbaren Gier heran. Er dürstete nach dem Strom. An seinem Ufer wollte er auf die Knie fallen und trinken, nur noch trinken, bis sein Durst gestillt war. Bis er erfüllt war vom Bewusstsein der gesamten Welt, teilhatte an dem Ganzen, um schließlich darin aufzugehen und Vollendung zu erfahren.
Doch im gleichen Augenblick würde Veritas selbst aufhören zu existieren.
Genauso fasziniert wie entsetzt wich ich zurück. Ich glaube, es gibt nichts Erschreckenderes, als dem aufrichtigen Willen zur Selbstzerstörung zu begegnen. Obwohl ich selbst die Verlockung spürte, konnte ich Veritas’ Verhalten nicht gutheißen. Es war seiner in nichts würdig. Weder als Mann noch als Prinz sollte er zu einer solchen feigen Tat fähig sein. Ich schaute ihn an, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen.
Und mir wurde bewusst, wie lange es tatsächlich her war, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
Seine glänzend schwarzen Augen waren abgestumpft. Sein Umhang, der ihn im Wind umflatterte, war nur noch ein zerlumpter Fetzen; das Leder seiner Stiefel zeigte Brüche und Risse, und die Nähte klafften auseinander. Er schritt mit unsicheren, schwerfälligen Schritten voran, und selbst ohne den Wind und seine heftigen Böen wäre er ins Schwanken geraten. Seine Lippen waren bleich und schrundig. Seine Haut wirkte fahl und blutleer. Ich hatte ihn in jenen Sommern gesehen, als er sich im Ringen mit der Gabe gegen die Roten Korsaren so rückhaltlos verausgabt hatte, dass er schließlich nur noch der schwache Schatten seiner selbst gewesen war. Nun verkörperte er etwas anderes: Zähigkeit und sehnige Muskeln, die wie über ein Gerüst von Knochen gespannt und mit Haut überzogen schienen. Nur sein Wille hielt ihn aufrecht und ließ ihn weiter
Weitere Kostenlose Bücher