Fix und forty: Roman (German Edition)
Koteletten und den Secondhand-Pullovern vorbehalten war. Nichts beflügelte meine Studien so sehr wie der Geruch jenes Stockwerks. Es müffelte köstlich nach Buchleim aus dem neunzehnten Jahrhundert und alten Zeitschriften. In den Lesekabinen fläzten sich die Oberstreber, verschanzt hinter Bücherstapeln wie Kinder hinter Cornflakesschachteln. Gelegentlich sah man einen Einzelgänger in Retro-Polyesterklamotten kommen oder gehen, die Arme voll beladen mit Laptop und Büchern, die sich bis zum Kinn stapelten. Ich mochte das kirchliche Schweigen dort oben und all die Buchgerüche. Und mir gefiel es, dass man von den Bücherwürmern hinter seinen eigenen Türmen in Ruhe gelassen wurde. Ich fühlte mich wie ein alter Mönch in seiner schweigenden, aber geschäftigen Bruderschaft, das einzige Geräusch die Federkiele, die auf dem Pergament eines Sakramentars kratzten.
Als ich Nick aus dem Italienischkurs für Erstsemester wiedererkannte, den ich als Gasthörerin besuchte, wurde mir klar, dass er, wenn er sich hier oben bei den Hardcorestudenten aufhielt, unmöglich der Studienanfänger sein konnte, für den ich ihn gehalten hatte. Wegen seiner langen Haare und seines jungenhaften Charmes hatte ich ihn auf Anfang zwanzig geschätzt. Doch als er jetzt vor meiner Lesekabine stehen blieb, sah ich, dass er älter war; in der Art, wie er mir zunickte, lagen Selbstvertrauen und Erfahrung.
Das Polospieler-Logo auf seinem ansonsten makellosen Ralph-Lauren -Hemd war vorsätzlich verstümmelt. Kleine Fäden standen in alle Richtungen ab. »Was ist da passiert?«, fragte ich und zeigte auf das Logo.
»Ich habe versucht es abzumachen. Ich laufe doch nicht als kostenlose Werbetafel für diesen verdammten Ralph Lifshitz und seine Phantasievorstellungen von einem elitären Nantucket herum.«
»Warum hast du das Hemd dann gekauft?«
»Sieh es dir an.« Er grinste. »Es ist ein tolles Hemd.«
»Pssst«, kam die gereizte Mahnung aus einer benachbarten Kabine. Ein Mann in einem Blumenkleid und Doc Martens funkelte uns an.
»Mach eine Lernpause«, schlug Nick vor. »Wir zwei gehen jetzt Mittagessen. Wir können den congiuntivo üben.«
Damit war es um mich geschehen. Ich war Hals über Kopf verknallt, noch bevor ich sah, dass Nick Nietzsche las, noch bevor er vorschlug, am gleichen Abend in Santa Monica einen Dokumentarfilm über Noam Chomsky zu sehen. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich einfach lächeln und sagen können: »Nein, ich kann nicht, ich muss das hier fertig machen. Bis irgendwann mal wieder.« Wie viel Leid mir das erspart hätte, wie viele verletzende Worte!
In den ersten Jahren unserer Ehe wohnten wir praktisch im YMCA West Hollywood. Das Sportgelände, das im Volksmund Y genannt wurde, bot den perfekten Ausgleich zu unserem anstrengenden Studium. Nachdem ich in meiner Kindheit immer als Letzte in die Mannschaft gewählt worden war und aus einer einzigen Mandeloperation zwei Jahre Befreiung vom Schulsport geschunden hatte, hatte ich die Arena der sportlichen Ertüchtigung relativ spät betreten. Erst im fortgeschrittenen Teeniealter, als mir mein Bruder Caleb geduldig Racquetball beibrachte, wurde mir klar, dass ich durchaus die Koordination für athletische Abenteuer besaß. Ich versuchte den späten Einstieg wettzumachen, indem ich zum ehrgeizigen Arschloch wurde. Doch Nick, ebenfalls ein ehrgeiziges Arschloch, stampfte mich beim Sport jedes Mal in Grund und Boden. Sie kennen sicher diese athletisch veranlagten Ehemänner, die liebevoll mit ihrer Frau Racquetball spielen und stolz auf jeden Punkt sind, den sie macht? Nick war das Gegenteil. Er spielte mit rasendem Zorn und schlug den Ball so fest, dass er mir damit manchmal den Schläger aus der Hand riss.
Aber mir machte es Spaß. Ich liebte die Spannung des abstrakten Dialogs. Auf dem Platz sprachen wir so wenig wie möglich: »Nachteil.« »Schummler.« »Spielball.« Manchmal kamen Profis ins Y, und wann immer sie sich blicken ließen, trugen wir uns für Trainerstunden ein. Doch eines der örtlichen Mitglieder, eine Frau namens Lila Korndahl, war sogar noch besser als die Profi-Spielerinnen, die ab und zu Seminare anboten. Lila Korndahl war eine unauffällige Hausfrau, dreiundfünfzig Jahre alt, mit krausem Problemhaar und dicken Knöcheln, doch im YMCA West Hollywood wurde sie von allen verehrt. Hin und wieder fiel ein unglücklicher Gast auf den ach-so-beiläufigen Vorschlag von Lilas Ehemann herein: »Hey, Kumpel, wie wär’s, wenn
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