Flammende Sehnsucht
zusammen.
»Ausgezeichnet. Nun, also«, sagte er und wies mit dem Kopf zur anderen Seite der Bibliothek, »die Regale auf dieser Seite der Bibliothek beherbergen Bücher fachlichen oder analytischen Inhalts. Geschichte, Astronomie, Geographie, Philosophie und so weiter. Hier jedoch stehen die Werke der Literatur und der Dichtung, des schöpferischen Genius der Menschheit.«
Sein hungriger Blick wanderte über die büchergefüllten Regale, die sich endlos nach oben - quasi himmelwärts -erstreckten. Ob er sich wohl noch daran erinnerte, dass er immer noch ihre Hand hielt.
»Wenngleich ich viele der Bücher auf der anderen Seite der Bibliothek gelesen habe, so tat ich es doch in erster Linie im Rahmen meiner schulischen Ausbildung und weniger aus Neigung - obwohl mir die dabei erworbenen Kenntnisse durchaus zustatten kamen. Diese Bücher jedoch, Miss Effington« - Feuer, ja, Leidenschaft schwang jetzt in seiner Stimme - »haben wohl auf mich gewartet, bis ich imstande war, sie wirklich wertzuschätzen. In meiner Jugend habe ich nicht viel gelesen, in den vergangenen Jahren aber habe ich sie alle gelesen und manche mehr als nur einmal.«
»Das ist wirklich bewundernswert, Mylord«, murmelte sie. Würde er nun endlich ihre Hand loslassen?
»Hier stehen die Werke von Chaucer und Donne, Spenser und De Vere.« Er überflog die Regale. »Malory und Defoe. Defoe ist einer der wenigen Autoren, die ich schon als Junge schätzte.« Er sah sie an. »Mögen Sie Defoe, Miss Effington?«
»Aber natürlich«, meinte sie leichthin und durchforstete ihr Gedächtnis nach irgendetwas über Defoe. »Wer in aller Welt könnte Defoe nicht mögen. All die ... äh ...«
»Abenteuer?«, schlug er vor.
»Genau.« Eifrig nickte sie. Zwar klang der Name Defoe irgendwie vertraut, aber sie hätte ihn und sein Werk beim besten Willen nicht einordnen können, und das wollte sie Lord Berkley nicht auf die Nase binden; während ihre Schwester enorm belesen war, beschränkten sich Cassies literarische Vorlieben auf frivole Romane, die sie sich hin und wieder zu Gemüte führte, sowie Zeitschriften mit der jeweils letzten Mode in Sachen Kleidung und Raumausstattung. »Er ist so ... so ... so abenteuerlich.«
»In der Tat.« Er betrachtete sie neugierig. »Dann hat Ihnen Robinson Crusoe also gefallen?«
»Ich konnte ihn nicht mehr aus der Hand legen.« Erleichterung durchströmte sie. Wie konnte sie sich nur derart ins Bockshorn jagen lassen, dass sie sich nicht mehr erinnerte, dass Defoe Robinson Crusoe geschrieben hatte? Natürlich hatte sie ihn nicht gelesen, war sich aber ziemlich sicher, dass Delia es getan und irgendwann einmal davon erzählt hatte. Nicht dass Cassie sich daran erinnerte. »Sehr, sehr unterhaltsam.«
»Wegen des abenteuerlichen Charakters der ... der Abenteuer?«
Seine grauen Augen fixierten sie, als fordere er sie heraus, doch zuzugeben, dass sie weder dieses Buch noch irgendwelche anderen gelesen hatte. Hätte der Kerl nur ihre Hand losgelassen, dann hätte sie ja vielleicht besser denken können. Es schickte sich einfach nicht und war furchtbar dreist von ihm, obwohl er es nicht einmal zu bemerken schien. Aber was war bei einem Mann seines Rufs auch schon zu erwarten? Und dennoch, die Wärme seiner Hand, die ihre umschloss, zu spüren war erstaunlich angenehm. Und da es ihm offensichtlich völlig gleichgültig war, warum hätte sie dem große Bedeutung beimessen sollen?
»Vielleicht haben Sie ja eine weit größere Neigung zum Abenteuer, als Sie sich eingestehen wollen?«
»Das Abenteuer in der Literatur ist eine völlig andere Sache als im wirklichen Leben«, meinte sie sittsam und machte den halbherzigen Versuch, ihm ihre Hand zu entziehen.
»Verzeihen Sie mir, Miss Effington.« Er zog ihre Hand an seine Lippen und küsste sie leicht, wobei er sie unverwandt ansah. Dann ließ er ihre Hand los, und sie versuchte, die ärgerliche Regung angesichts des seltsamen Verlustgefühls zu unterdrücken. »Sehr unschicklich von mir, Ihre Hand nicht loszulassen, aber ich fürchte, ich habe mich mitreißen lassen. Zweifellos haben Sie von einem Mann von meinem Ruf nichts anderes erwartet.«
Sie wollte protestieren, entschied sich aber dann anders. Er war ja so schon arrogant genug, es war unnötig, ihm ihre Freude über seine Berührung einzugestehen oder ihm auch nur ansatzweise das Gefühl zu vermitteln, sie habe sie genossen.
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ließ den Blick suchend über die Regale gleiten.
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