Flammenherz (German Edition)
wisst gar nicht, was mir das bedeutet, Lady Janet.«
Von diesem Tag an trafen wir uns täglich zum Nachmittagstee und ich lehrte ihr Lesen und Schreiben. Mistress Graham war eine vorbildliche Schülerin, denn sie war wissbegierig und sehr fleißig. So dauerte es nicht sehr lange, bis sie mit meiner Hilfe, ihren ersten eigenen Brief verfasste, den sie voller Stolz, an ihre Schwester nach England schickte.
Die Privilegien meiner Tätigkeit als Privatlehrerin zeigten sich unter anderem beim Abendessen. Als Mistress Graham das silberne Tablett mit den Rinderfilets an den Tisch brachte und Caleb gerade dabei war sich das schönste und zarteste Stück herunterzunehmen, zog sie die Platte flink aus seiner Reichweite. Dann legte sie das Filet, mit einem Augenzwinkern, auf meinen Teller.
Caleb sah sie wie ein begossener Pudel an und tat mir dabei fast ein wenig leid. Als der Nachtisch gereicht wurde - eine Platte mit köstlichem Obst - reichte sie mir die einzigen drei Erdbeeren und erntete einen bitterbösen Blick von Lady Adelise.
Ein weiterer Vorteil war, dass ich durch Mistress Graham immer auf dem Laufenden war, was den neuesten Klatsch und Tratsch betraf. So erfuhr ich, dass es zwar der Wunsch von Calebs Onkel war, ihn mit Lady Adelise zu vermählen, dass er aber keinerlei Gefühle für sie hegte und sich erst dann vermählen wolle, wenn er die große Liebe gefunden hatte.
»Was ist eine Siùrsach?«, fragte ich beiläufig, als mir einfiel, dass ich noch immer nicht wusste, was dieses Wort bedeutete. Mistress Grahams Augen wurden groß und sie sah mich entsetzt an.
»Das ist kein sehr schöner Ausdruck, mein Kind. Warum wollt Ihr das wissen?«
»Lady Adelise hat mich so genannt«, antwortete ich und beobachtete, wie sie darauf reagierte. Mistress Graham blies die Backen auf und ließ die Luft dann geräuschvoll wieder entweichen. Dann stieß sie irgendeinen gälischen Fluch aus und schüttelte wütend den Kopf.
»Siùrsach ist die Bezeichnung für eine Dirne«, erklärte sie sichtlich aufgebracht. Seltsamerweise war ich kein bisschen geschockt, denn ich hatte mir so etwas schon gedacht. Bevor Mistress Graham sich noch mehr hineinsteigern konnte, wechselte ich rasch das Thema. Als ich sie bat mir mehr über Seamus zu erzählen, legten sich dunkle Schatten auf ihr Gesicht.
»Er ist der ältere Sohn und laut Gesetz somit auch der Laird von Trom Castle, doch er hat zu Calebs Gunsten auf seinen Titel verzichtet«.
»Aber warum hat er das getan?«, fragte ich neugierig. Mistress Graham schüttelte traurig den Kopf.
»1650, als sich die Schotten bei Dunbar gegen die Armee der neuen, englischen Republik zur Wehr setzten, war Seamus gerade 20 Jahre alt. Er kämpfte an der Seite seines Vaters gegen Cromwells Soldaten. Sein Vater, Laird Connor Malloy, hatte ihm verboten, an dieser Schlacht teilzunehmen, doch Seamus war den Männern gefolgt, und als der Kampf begann, war es zu spät ihn in Sicherheit zu bringen. Er war so jung und ungestüm und glaubte, dass niemand ihm etwas anhaben konnte. So stürzte er sich euphorisch in den Kampf. Aber schon nach wenigen Augenblicken musste er sich eingestehen, dass er gegen die gut ausgebildeten Rotröcke nicht ankommen konnte. Als einer der Soldaten ihm das Schwert aus der Hand geschlagen hatte, wusste er, dass er nun sterben würde. Sein Vater Connor kam ihm zu Hilfe und rettete Seamus das Leben. Diese Ablenkung nutzte ein anderer Rotrock und durchbohrte Connor mit seiner Klinge. Seamus tötete den Soldaten, doch für seinen Vater kam jede Hilfe zu spät. Er starb wenige Minuten später in den Armen seines Sohnes.«
Ich schnappte nach Luft, als ich mir in Gedanken die Szene ausmalte.
»Er gibt sich die Schuld am Tod seines Vaters, nicht wahr?«
Mistress Graham nickte und seufzte laut.
»Kurz zuvor war Lady Malloy an einer kranken Lunge gestorben und nun hatten die beiden Jungs auch noch den Vater verloren. Seit diesem Tag ist Seamus wie ausgewechselt, denn die Schuld belastet ihn bis zum heutigen Tag. Kurz nach seiner Rückkehr verzichtete er auf den Erbtitel und übertrug diesen auf seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Caleb.«
Ich konnte die Trauer und die Sorge in ihren Augen erkennen, als sie sprach. Des Öfteren schon hatte ich beobachtet, dass sie ein fast mütterliches Verhältnis zu den Brüdern hatte. Mistress Graham klatschte sich mit den Händen auf die Oberschenkel und erhob sich.
»Ich habe noch einiges in der Küche zu erledigen«, sagte sie, lächelte mich an
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