Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
wird.
Sie verschwindet einfach unter den Wagen.
Mitten in den Sekunden kreischender Verzögerung sieht Joona kurz, dass sich in den trichterförmigen Blättern des Frauenmantels auf dem Bahndamm Blutstropfen gesammelt haben. Als er bremst, quietscht der Zug langgezogen und eigentümlich. Die Wagen stöhnen, als sie in ruckenden Schüben langsamer werden und schließlich stehen bleiben. Es wird still, und man hört wieder das leise Summen der Insekten im Graben. Der Zugführer bleibt auf seinem Platz sitzen, als wäre er zu einer Salzsäule erstarrt. Ein langgezogener Streifen Blut läuft über die Schwellen zwischen den Schienen zu einem dunkelroten Klumpen aus Stoff und Fleisch. Der Gestank der Bremsen verbreitet sich in der näheren Umgebung. Der Hund läuft mit eingezogenem Schwanz wimmernd parallel zu den Gleisen auf und ab und scheint nicht zu wissen, wo er stehen bleiben soll.
Joona entfernt sich langsam und holt die Umhängetasche der Frau von der Böschung. Als er den Inhalt auf den Bahndamm ausleert, kommt der Hund dazu und schnüffelt. Zusammen mit einigen Geldscheinen flattern Bonbonpapiere im Wind davon. Joona hebt nur das schwarze Handy auf und setzt sich damit auf einen Betonklotz neben dem Bahndamm.
Der Westwind trägt den Geruch von Stadt und Müll zu ihm.
Er klickt die Mailbox des Handys an, stellt die Verbindung her und erfährt, dass zwei neue Nachrichten vorliegen:
»Hallo, Mama«, hört man eine Mädchenstimme sagen und Joona weiß sofort, dass es Vickys sein muss. »Warum meldest du dich nicht mehr? Wenn du zur Entgiftung in eine Klinik gehst, will ich das vorher wissen. Jedenfalls gefällt es mir hier in derWohngruppe. Na ja, das habe ich beim letzten Mal vielleicht auch gesagt …«
»Eingegangen am ersten August, 23.10«, verkündet die automatische Stimme.
»Hallo, Mama«, sagt Vicky mit angespannter und keuchender Stimme. »Es ist was passiert, und ich muss dich unbedingt erreichen, ich kann jetzt nicht lange reden, ich hab mir das Handy nur geliehen … Mama, ich weiß nicht, was ich tun soll … ich kann nirgendwohin, schlimmstenfalls muss ich Tobias um Hilfe bitten.«
»Eingegangen gestern um vierzehn Uhr und fünf Minuten.«
Plötzlich bricht die Sonne durch den grauen Himmel. Die Schatten bekommen scharfe Konturen, und die blanken Oberseiten der Schienen glänzen.
109
ELIN FRANK ERWACHT in einem großen, fremden Bett. Die Uhr des Fernsehers verbreitet ein grünes Licht im Schlafzimmer der Präsidentensuite. Vor den Verdunkelungsvorhängen sieht man die farbenfrohen Ziervorhänge.
Sie hat lange geschlafen.
Der süße Duft der Schnittblumen im Salon führt dazu, dass ihr leicht übel wird, und die säuselnde Klimaanlage verbreitet eine ungleichmäßige Kühle, aber sie ist zu müde, um zu versuchen, sie abzustellen oder in der Rezeption anzurufen.
Sie denkt an die Mädchen in dem Haus an der Küste. Irgendeine von ihnen muss mehr wissen. Es muss einfach einen Zeugen geben.
Das kleine Mädchen namens Tuula sprach und bewegte sich, als würde es innerlich kochen. Vielleicht hat Tuula etwas gesehen und traut sich nur nicht, es zu erzählen.
Elin denkt daran zurück, wie das Mädchen an ihren Haaren gerissen und versucht hatte, ihr mit einer Gabel ins Gesicht zu stechen.
Eigentlich sollte ihr das mehr Angst machen, als es das tut.
Sie lässt die Hand unter das Kissen gleiten, spürt die brennende Wunde an ihrem Handgelenk und denkt darüber nach, wie die Mädchen sich verbündeten und Daniel provozierten, als sie seinen schwachen Punkt gefunden hatten.
Elin dreht sich herum und denkt an Daniels Gesicht, seinen schönen Mund und die empfindsamen Augen. Auch wenn es eigentlich lächerlich war, bis zu ihrem Fehltritt mit dem französischen Fotografen war sie Jack treu geblieben, was sie allerdings nicht bewusst getan hatte. Sie weiß, dass sie geschieden ist und er niemals zu ihr zurückkehren wird.
Nach der Dusche cremt Elin sich mit Lotion ein, wickelt neue Verbände um ihre Handgelenke und zieht zum ersten Mal in ihrem Leben dieselben Kleider an wie am Vortag.
Es gelingt ihr nur mit Mühe, die Ereignisse vom Vortag zu verstehen. Alles fing damit an, dass der sympathische Kommissar von der Landeskriminalpolizei erklärte, er sei sich sicher, dass Vicky noch lebe.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, war sie zum Krankenhaus in Sundsvall gefahren und hatte so lange gebettelt, bis sie mit Daniel Grim sprechen durfte.
Als Elin ihr Necessaire aus der Umhängetasche
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