Flammenzungen
Couch, räumte ein Glas und einen Teller von Lorcan weg und kam sich vor, als würde sie hinter ihrem Ehemann aufräumen. Fühlte sich gar nicht so übel an. Lachend ging sie in die Küche und spülte das Geschirr ab. Ihre Mutter würde auf der Stelle tot umfallen, wenn sie einen Stadtstreicher, der in Untersuchungshaft gesessen hatte, heiraten wollte. Ihr Vater dagegen würde Verständnis zeigen, ihr aber heimlich Geld zustecken und ihr vorschlagen, zu ihrer Tante nach Seattle zu fahren, um dort einen Monat - oder noch besser: ein ganzes Jahr - zu verbringen und sich eine Auszeit zu gönnen. Und um in Ruhe über alles nachzudenken. Alleine selbstverständlich.
Sie blickte auf die Uhr. Erst in einer halben Stunde musste sie zur Arbeit aufbrechen. Lorcan war früher wach gewesen als sie. Trotz seiner Lebensumstände ließ er sich nicht gehen. Das gefiel ihr, es beunruhigte sie aber auch, denn es passte so gar nicht zu den Erfahrungen, die sie mit anderen Clochards während ihrer Arbeit im Asyl gemacht hatte. Er war eher wie Nick Noke in Zoff in Beverly Hills. Schöngefärbt. Zu gut, um echt zu sein.
Grübelte sie zu intensiv, oder lag es an der Schwüle, dass sich Kopfschmerzen ankündigten? Ihre Schläfen massierend, ging sie ins Bad und hob den Deckel des Rattankorbes, in dem sie ihre Schmutzwäsche sammelte. Sie kräuselte die Stirn und zog eine einzelne Wollsocke heraus.
„Was macht die denn da drin?“ Lorcan musste sie hineingeworfen haben. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu er sie benutzt hatte, und wollte es auch gar nicht wissen. Ihr Bauchgefühl riet ihr, die Socke einfach zu waschen und zurück in die Kommode zu legen.
Ihr Blick fiel auf seine Jeans, die zwischen Toilette und Badewanne lag. Hatte sie auf dem Wannenrand gelegen und war heruntergerutscht? Oder hatte Lorcan sie einfach fallenlassen, weil sie eh schmutzig war? Amy beschloss, nicht auf ihn zu warten, um ihn zu fragen, sondern seine Kleidung einfach zu waschen. Der Hose schadete es bestimmt nicht, und Lorcan konnte solange in seinen Shorts herumlaufen. Oder nackt.
„Vielleicht sollte ich mich heute krankmelden.“ Amy gluckste, wusste aber, dass sie das ohnehin nicht machen würde, weil es unfair gegenüber ihrer Kollegin wäre, die im Krankheitsfall ihre Arbeit zusätzlich zu ihrer eigenen erledigen musste.
Sie hob die Jeans auf und leerte die Taschen. Überrascht weiteten sich ihre Augen, als sie Lorcans Portemonnaie fand. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er überhaupt eines besaß. Die meisten, die auf der Straße lebten, scherten sich nicht um ihre Papiere. Für sie war das nächste Essen oder ein Schlafplatz weitaus wichtiger, als ihre Unterlagen zusammenzuhalten.
Amy wusste, dass sie ihn nicht ausspionieren sollte, aber ihre Neugier siegte. Die Geldbörse war flach, aber gut erhalten, aus braunem Leder, das an den Ecken leicht rund gebogen war, weil er es wohl stets in seiner Gesäßtasche trug. Es befanden sich nur ein Zehndollarschein und einige Münzen darin. Keine Kreditkarten. Keine Social Security Card. Keine Supermarktcoupons oder Fotos von Kindern. Aber, und darüber staunte sie nicht schlecht, sie zog seinen Führerschein und seine ID-Card heraus.
„Alle Stadtstreicher verlieren ihre Papiere irgendwann“, hatte Wanda einmal erzählt, „entweder im Suff oder im Rausch, oder sie werfen sie weg, weil sie sie für überflüssig halten, denn niemand fragt sie je danach.“
Mit dem Daumen strich Amy über das Foto auf der Identity Card. Bei dem Mann handelte es sich eindeutig um Lorcan, auch wenn darauf seine Haare akkurat kurz geschnitten waren und er keinen Henriquatre-Bart trug. Seine Augen strahlten wie zwei blaue Leuchtdioden. Der Kragen eines weißen Oberhemdes war noch zu sehen. Lorcan und Businesshemden, das konnte sie sich kaum vorstellen, denn es passte so gar nicht zu seinem heutigen Auftreten. Auf dem Bild machte er den Eindruck eines Geschäftsmanns, auch wenn er keine Krawatte trug. Inzwischen allerdings schien er wild und freiheitsliebend geworden zu sein. Wenn er ernst guckte, wirkte er sogar düster und geheimnisvoll und seine Muskeln beinahe brutal.
Der Mann auf dem Ausweis, Lorcan MacConmara, war jemand, den man in der Mittagspause in einem hippen Bistro traf, der über die Hitze stöhnte und nachher die Rechnung beglich. Den Lorcan, den sie kannte, interessierte nicht, ob die Sonne vom Himmel knallte oder es regnete. Auf der Straße hatte er sich ein dickes Fell
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