Flashback
Zentimeter offen.
Da konnte er sich doch nie durchzwängen, selbst wenn er es irgendwie schaffte, sich hochzuziehen.
Was jetzt, du Arschgesicht?
Die Antwort war simpel: Er musste einfach ein bisschen herumklettern, genau wie auf den Trägern unter der Überführung über die I-10. Val schwang die Beine in die Luft und brachte die gekreuzten Fußgelenke irgendwie über den Metallsims.
Immer noch am Seil hängend löste er das rechte Bein und trat gegen die Dachluke.
Doch der Rahmen, der insgesamt sechs große Scheiben umschloss, war zu schwer. Der Drehmechanismus war eingerostet. Nichts bewegte sich.
Val legte die Fußgelenke wieder übereinander und hing keuchend da. Er war total ausgepowert. Schon in wenigen Sekunden bestand seine letzte Chance darin, einfach am Kletterseil fünfundzwanzig Meter tief zum Marmorboden hinunterzurutschen. Würde seine Kraft noch ausreichen, um sich dabei festzuklammern? Er bezweifelte es.
Mit einem Laut zwischen einem lauten Ächzen und einem leisen Schrei riss Val die Beine hoch, um mit beiden Stiefeln nach oben gegen den Metallrahmen zu treten. So oder so, es war sein letzter Versuch.
Die Stiefelsohlen verfehlten den Rahmen, trafen aber mit voller Wucht auf die verschmierte Scheibe. Wie ein Mosaik brach ein großes Stück Glas heraus, sauste an Val vorbei und zerbarst mit lautem Krachen, als es unten aufschlug.
Und Vals rechter Fuß steckte in dem schartigen Loch, das die zertrümmerte Scheibe hinterlassen hatte.
»Scheiße«, stöhnte er. Schweiß rann ihm übers Gesicht und tropfte in die Tiefe. Gehalten nur von seinem rechten Fußgelenk riss er das linke Bein hoch über den Metallsims, den er zugleich mit der linken Hand umklammerte. Völlig verkrümmt baumelte er eine
Sekunde dort oben, während sich Scherben in die Hosen um sein rechtes Fußgelenk bohrten, dann zerrte er sich mit einem letzten, heftigen Ächzen auf den fünfzehn Zentimeter breiten Stahlsims. Schwankend hing er über dem Abgrund, dann ließ er das Seil los, um sich oben am Dachlukenrahmen festzuhalten.
Und endlich bewegte der sich knarrend nach oben.
Einige Sekunden später war Val auf dem Kiesdach. Seine Arme zitterten heftig, und er hatte kaum noch die Kraft, um das Seil hochzuziehen und zusammenzurollen.
Und jetzt kommt Gunny G. mit seinen Wachleuten einfach die Treppe rauf und verhaftet mich.
Doch niemand kam.
Mit weichen Knien trottete Val zur Südwestecke des Gebäudes, wo unten der Zaun begann. Dort stieß er auf ein Rohr, das aussah, als könnte es vielleicht sein Gewicht tragen, befestigte die Karabinerschlinge darum und ließ die Seilrolle nach unten bis zum Asphalt fallen. Val schloss die Augen und versuchte, mit dem Zittern aufzuhören.
Natürlich hätte er eigentlich warten müssen, bis die Kraft in seine Arme zurückkehrte, aber er wusste nicht, ob er die Zeit dafür hatte. Also setzte sich Val auf die Dachkante – hier waren es ungefähr achtzehn Meter bis zum Boden –, schlang sich eine Schlaufe ums Handgelenk und gab etwas Seil frei, bis er es mit den Beinen zu fassen bekam. Mach’s einfach wie im Sportunterricht.
Dann ging es los.
Val rutschte so schnell in die Tiefe, dass es ihm die Haut von den Händen brannte, und als er unten ankam, konnte er sich nicht aufrecht halten, weil seine Beine zu sehr wackelten. Laut keuchend sackte er mit dem Rücken zum Haus auf den Asphalt. Das Keuchen klang ein wenig nach Schluchzen, aber, so fand er, dafür konnte er wirklich nichts.
Er holte seine Beretta aus dem Versteck im Rohr und stand einfach nur eine Weile bei den Trümmern der zerstörten Fußgängerbrücke.
Was jetzt?
Das war schon seit einer ganzen Weile die alles beherrschende Frage, und anscheinend wusste Val nie die richtige Antwort.
Ich bring den Alten um und mach mich aus dem Staub.
Trotz seiner Vertrautheit kam ihm der Gedanke auf einmal pervers vor. Bisher war es immer nur eine schwarze Fantasie gewesen, die aus der Ohnmacht des Zehnjährigen enstanden war: Seine Mutter hatte Geheimnisse gehabt und den Alten angelogen. Mit schier unfassbarer Begriffsstutzigkeit hatte sein Vater zugelassen, dass sich Vals Mutter mit Mr. Cohen traf, und ihr einfach geglaubt, dass sie das ganze Wochenende bei Laura McGilvrey verbrachte. Und schließlich hatte sein Vater in dem langen Monat nach dem Tod von Vals Mutter nicht eine einzige Träne geweint. All diese Dinge hatten sich zu der Fantasie verbunden, dass sein Vater die Affäre entdeckt und es seiner Frau auf grausame Weise
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