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Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Titel: Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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Friedhof.«
    »Das hole ich, sobald du deinen Tee trinkst«, erwiderte Miss Tanty. »Und dann rufe ich jemanden an, der dich nach Hause bringt.«
    Plötzlich sah ich vor mir, wie mich jemand, vielleicht Miss Gawl, mit einem langen Hirtenstab – vielleicht auch einem Bischofsstab – über die schmale Straße nach Buckshaw führte, als wäre ich ein verirrtes Lämmchen.
    »Sehr nett von Ihnen«, sagte ich.
    »Keine Ursache.« Sie grinste furchterregend freundlich.
    Schon standen wir vor ihrem Haus, als hätte uns ein fliegender Teppich hinbefördert.
    Ob das vom Schock kommt?, überlegte ich. Ist mein Zeitgefühl gestört?
    War es möglich, sich im Schockzustand zu befinden und sich gleichzeitig dabei zu beobachten?
    Miss Tanty kramte ihren Schlüssel heraus und schloss die Haustür auf, was mir komisch vorkam, weil in Bishop’s Lacey sonst niemand die Tür abschloss.
    Als wir hineingingen und sie die Tür wieder verriegelte, rief der Papagei aus dem Wintergarten: »Hallo, Quentin! Alle Mann an Deck!« Dann pfiff er vier Töne, die ich als den Anfang von Beethovens Fünfter erkannte.
    »Dah-Dah-Dah-DAMM!«
    Hallo, Quentin? Das hatte der Vogel auch gesagt, als ich das erste Mal hier gewesen war. Außerdem hatte Miss Tanty vorhin Benson so angesprochen. Aber nein … Benson hieß doch Martin.
    Hatte sie den Richter gemeint?
    »Setz dich«, kommandierte Miss Tanty. Wie von Zauberhand standen wir bereits in der Küche. »Ich stelle Wasser auf.«
    Ich sah mich um. Alles war blau. Seltsam, aber wahr. In ers-ter Linie erinnere ich mich daran, dass Miss Tantys Küche blau war. Das war mir beim ersten Mal gar nicht aufgefallen.
    Auf dem Tisch standen ein Milchkrug mit verwelkten Lilien, ein kleines Schneidebrett mit einem halben Kastenbrot, ein Toaster, ein Zinnleuchter mit einer halb heruntergebrannten Kerze und eine Schachtel Streichhölzer.
    Es war unverkennbar, dass Miss Tanty sehr einsame Mahlzeiten zu sich nahm.
    Dann stand auf einmal eine Tasse mit dampfendem Tee vor mir, was mich mit tiefer Dankbarkeit erfüllte.
    »Trink! Und iss ein paar von denen hier.«
    Miss Tanty schob mir eine Untertasse mit Mürbegebäck unter die Nase und hantierte dann in einem Küchenschrank herum.
    »Diese Männer …«, sagte sie eine Idee zu beiläufig, nein, entschieden zu beiläufig, »diese Männer in der Kirche … Was wollten die von dir?«
    »Sie dachten, ich hätte etwas gefunden. Und sie wollten, dass ich es ihnen gebe.«
    »Und?«
    »Nein.«
    Die große Brille schwenkte herum und fixierte mich.
    »Heißt ›Nein‹, dass du nichts gefunden hast? Oder dass du es ihnen nicht gegeben hast?«
    Ich schaute wie hypnotisiert in ihre Augen und brachte kein Wort heraus.
    »Na?«
    In diesem Augenblick – und viel zu spät – wurde mir plötzlich alles klar.
    »Ich muss nach Hause«, sagte ich. »Mir geht’s nicht gut.«
    Miss Tanty zog blitzschnell die Hände hinter dem Rücken hervor. In einer Hand hielt sie eine Glasflasche, in der anderen ein Taschentuch.
    Sie kippte ein wenig Flüssigkeit auf das Leinen und drückte es mir auf die Nase.
    Aha!, dachte ich, (C 2 H 5 ) 2 O.
    Schon wieder Diäthyläther.
    Den süßlichen, im Rachen kitzelnden Geruch erkannte ich auf Anhieb.
    Der Chemiker Henry Watts hatte diesen Geruch als »erheiternd und anregend« beschrieben, die Encyclopaedia Britannica hatte ihn »angenehm« genannt, aber es war offensichtlich, dass weder Professor Watts noch die Verfasser der Encyclopaedia Britannica je erlebt hatten, wie ihnen eine beleibte, erstaunlich kräftige Verrückte mit flaschenbodendicken Brillengläsern das Zeug aufs Gesicht drückte.
    Es brannte.
    Es verätzte meine Nasenlöcher und bohrte sich in mein Gehirn.
    Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht.
    Miss Tanty klemmte mir von hinten einen Arm um den Hals und presste mich gegen die Stuhllehne. Mit der anderen Hand drückte sie mir das Taschentuch auf die Nase.
    »Dir werd ich helfen!«, sagte sie. »Dir werd ich helfen!«
    Ich zappelte und strampelte, aber es half nichts.
    Noch keine zehn Sekunden waren vergangen, und schon verschwand mein Bewusstsein strudelnd wie durch einen Abfluss in süßem, Übelkeit erregendem Vergessen. Ich brauchte mich dem Sog nur ganz zu überlassen.
    Ich musste nur nachgeben.
    »Nein!«
    Wer hatte da gerufen?
    War ich das gewesen?
    Oder war es Harriet?
    Ich hatte die Stimme ganz deutlich gehört.
    »Nein!«
    Miss Tanty ließ meinen Hals los und kramte in den Taschen meiner Strickjacke – erst in der einen, dann in

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