Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
dass ihm der Kopf nicht von den Schultern purzelte und in den Straßenstaub fiel.
»Dann kommt!«, sagte Feely. »Ich muss den Choral noch mal durchgehen und habe keine Zeit für …«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte sie anfügen: »… solche Kindereien.« Sie wollte natürlich dringend zur Orgel. Schließlich war heute ihre offizielle Premiere.
Vater ließ seinen unbestimmten Blick immer noch über die Felder schweifen, aber als Feely und Daffy in Richtung Kirche weiterstapften, ging er langsam hinterher – beinahe folgsam.
Daffy drehte sich im Gehen noch einmal um und musterte mich, als wäre ich eine auf dem Jahrmarkt zur Schau gestellte Missgeburt.
Was ist eigentlich aus dem Verkauf von Buckshaw geworden?, schoss es mir durch den Kopf. Ich war so mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, dass ich mich nicht mal danach erkundigt hatte.
Mich nicht getraut hatte, mich danach zu erkundigen.
Jetzt aber, da Vater wie ein Gespenst aussah, regte sich etwas in mir.
Irgendwie war ich auch stolz auf ihn. Ganz gleich, welche Teufel an seinen Eingeweiden nagten, sie konnten ihn nicht davon abhalten, seinen österlichen Pflichten nachzukommen. Im Grunde seines Herzens hatte mein Vater sich seinen Glauben bewahrt, und ich hoffte um seinetwillen, dass das genügen würde.
»Hier geht’s lang.« Adam führte mich um die Kirche herum, über den Friedhof, vorbei an der schlummernden Cassandra Cottlestone bis hinunter zum Flussufer. Bei dem Gedanken, dass ich seinerzeit an eben dieser Stelle dem Mörder von Horace Bonepenny begegnet war, lief es mir eiskalt über den Rücken. Das alles war erst ein knappes Jahr her, aber es hätte ebenso gut in einem anderen Leben stattgefunden haben können.
Adam stieg das sumpfige Ufer hinunter und zog ein Büschel Narzissen mit der Wurzel heraus.
»Ihre Stiefel werden ganz schmutzig«, sagte ich.
»Stimmt.« Er schaute kurz an sich hinab, aber es schien ihm nichts auszumachen.
Er kletterte wieder zu mir hoch und zog ein Taschenmesser aus der Westentasche.
»Weißt du, was das ist?« Er schnitt eine Narzissenzwiebel in Scheiben.
»Eine Osterglocke«, antwortete ich.
»Davon mal abgesehen.«
»Narcissin oder auch Lycorin. In den Wurzeln. C 16 H 17 N O 4 . Ein tödliches Gift. Wenn einem jemand dumm kommt, serviere man ihm gekochte Narzissenzwiebeln und behaupte, man hätte sie für Speisezwiebeln gehalten.«
»Uff!« Adam stieß einen Pfiff aus. »Du kennst dich ja gut aus.«
»Mit Giften schon.«
Er pflückte die kühlen Zwiebelscheibchen auseinander, rieb sie mir eins nach dem anderen behutsam übers Gesicht und trällerte dabei:
»Wenn die Narzisse blinkt herfür –
Heissa! mit dem Lumpenmädel durchs Tal –
Ja, dann kommt des Jahres lieblichste Zier;
Statt Winter blass herrscht rotes Blut zumal.«
Er hatte eine schöne Stimme und sang mit so viel Selbstvertrauen, als hätte er das Lied schon öfter auf der Bühne vorgetragen.
»Was soll das bedeuten?«, fragte ich. »Statt Winter blass herrscht rotes Blut zumal?«
»Dass sich das Blut immer wieder durchsetzt, sogar unter den kältesten Bedingungen.«
Ich fing ein bisschen an zu zittern, und das kam nicht nur daher, dass mir Adam das kühlende Gift auf Gesicht und Hals auftrug.
Blut und Narzissen. Das klang wie der Titel eines Kriminalromans von einer netten alten Dame, die Geschäfte mit Tod und Teekuchen machte.
Die ganze Geschichte war von Anfang an reichlich blutig gewesen: erst mein eigenes Blut, dann Fledermausblut, Froschblut und Heiligenblut und schließlich Mr. Collicutts nicht vorhandenes Blut.
Auch Narzissen hatten immer wieder eine Rolle gespielt. Eine Handvoll Narzissen und Krokusse hatten mich mit Miss Tanty bekannt gemacht. Was hatte sie doch gleich gesagt?
Du vergeudest deine Krokusse bloß.
»Glauben Sie …«, setzte ich an.
»Schsch!«, machte Adam. »Du willst das Zeug doch nicht in den Mund bekommen, oder?«
Ohne dass ich ihn dazu ermuntert hätte, fuhr er fort:
»Anemonen,
Die, eh’ die Schwalb es wagt, erscheinen und
Des Märzes Wind’ mit ihrer Schönheit fesseln. «
Die Worte riefen Bilder vor meinem geistigen Auge hervor. Ich dachte an Vater, an Gladys und an Blumen. Wir würden keinen Frühling mehr auf Buckshaw erleben.
»Ich hasse Narzissen!«, sagte ich und brach unvermittelt in Tränen aus.
Adam ließ sich davon nicht stören.
»›Violen … bleiche Primeln … die dreiste Maßlieb … die Kaiserkrone … Lilien aller Art, die
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