Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Grundsätzen und Methoden der Rechtsmedizin verbracht. Die reich mit Fotos bebilderten Bände hatte ich auf einem der obersten Regalbretter der Bücherei von Bishop’s Lacey entdeckt. Zufälliger- und glücklicherweise hatten sie fast die gleiche Größe wie Enid Blytons Die Insel der Abenteuer, Die Burg der Abenteuer und Die See der Abenteuer, sodass ich mich, nachdem ich die Umschläge vertauscht hatte, ungestört in einer Ecke des Lesezimmers der Lektüre widmen konnte.
»Alle Wetter, Flavia!«, hatte Miss Pickery, die Bibliothekarin, gesagt. »Du bist ja eine richtige Leseratte.«
Wenn die wüsste!
»Vielleicht ist ja irgendwo Gas ausgetreten, und er wollte sich in Sicherheit bringen«, tönte Feelys Stimme erstickt aus der Daunendecke.
»Vielleicht«, erwiderte ich unverbindlich.
Natürlich konnte es sein, dass das eiserne Monster im Keller der Kirche ein Leck hatte, durch welches Kohlenmonoxid austrat, aber dieses Gas war geruchlos, farblos und geschmacklos. Wie hätte Mr. Collicutt es wahrnehmen sollen?
Ich ging auch nicht davon aus, dass nach sechs Wochen noch messbare Spuren davon in seinem Blut nachweisbar gewesen wären – falls er überhaupt noch welches in den Adern hatte. Bei einer Kohlenmonoxidvergiftung heftet sich das Gas ( CO ) an das Hämoglobin im Blut und ersetzt dort den Sauerstoff. Das Opfer erstickt ganz einfach. Wenn der Betreffende aber rechtzeitig aus der gasverseuchten Luft geborgen wird, verflüchtigt sich das Kohlenmonoxid rasch wieder aus dem Blut, und die Atmung liefert neuen Sauerstoff.
Bei Toten sah die Sache anders aus. Sobald die Atmung zum Stillstand kam, blieb das Kohlenmonoxid beträchtliche Zeit im Blut erhalten. Man konnte es sogar in den Gasen nachweisen, die mehrere Monate alte Leichen verströmten.
Da ich aber ohnehin keinen Zugang zum Blut und den Organen des verstorbenen Mr. Collicutt hatte, nützte mir dieses Wissen nichts. Selbst wenn unter seiner Leiche eine Blutlache versteckt gewesen wäre, hätte sich das Blut längst durch die Luft in der Gruft, wie muffig sie auch sein mochte, wieder mit Sauerstoff angereichert.
Unwillkürlich roch ich wieder den beißenden Modergestank, der mir um die Nase geweht war, als ich den Kopf in die Wandöffnung gestreckt hatte.
Ich konnte nicht an mich halten. »Heureka!«
Auch Feely konnte nicht an sich halten. »Was ist denn?«, fragte sie gespannt.
»Äh … die Fledermaus in der Orgel! Sie muss irgendwie in die Kirche reingekommen sein. Irgendwo muss ein Fenster kaputt sein! Oder was meinst du?«
Diese Erklärung meines Ausrufs war so altbacken wie der Toast von gestern, aber auf die Schnelle fiel mir einfach nichts Besseres ein.
Zum Glück konnte Feely keine Gedanken lesen, sonst hätte sie Folgendes erfahren: Der kalte Luftzug, der aus der angeblich verschlossenen Gruft gedrungen war, erinnerte mich an das, was mir Daffy über den Spruch auf Cassandra Cottle-stones Grab erzählt hatte.
Nun lieg ich herfür
Vor der Kirchenthür.
Mein Leib, er möge Ruhe finden,
Meine Seele himmelwärts entschwinden.
»Sie wurde draußen vor der Kirche begraben, weil sie Selbstmord begangen hat. Deshalb ist sie nicht bei den anderen Cottlestones in der Krypta beigesetzt. Von Rechts wegen hätte sie gar nicht auf dem Friedhof begraben werden dürfen, aber weil ihr Vater Richter war, hat er Himmel und Erde in Bewegung gesetzt.«
Mir fiel der arme Mr. Twining ein, Vaters alter Lehrer, der hinter St. Tankred auf einem Stück Gemeindeland am anderen Flussufer begraben lag. Sein Vater war offensichtlich kein hoher Richter gewesen.
»Mrs. Cottlestone sorgte aber dafür, dass zwischen Cassandras Grab und der Familiengruft ein unterirdischer Gang angelegt wurde, damit ihre Tochter, oder zumindest ihre Seele, die Eltern jederzeit besuchen konnte.«
»Das denkst du dir jetzt aber aus, Daffy!«
»Mitnichten. So steht es im dritten Band von Geschichte und Geschichten von und aus Bishop’s Lacey. Kannst gern selber nachschlagen.«
»Ein unterirdischer Gang? Wirklich?«
»So erzählt man. Außerdem gibt es gewisse Gerüchte …«
»Was für Gerüchte? Sag schon!«
»Lieber nicht. Du weißt doch, dass Vater immer mit mir schimpft, weil ich dir angeblich Hirngespinste einrede.«
»Ich sag ihm kein Wort, ich schwör’s!«
»Ich weiß nicht …«
»Bitte-bitte-bitte! Großes Indianerehrenwort!«
»Na schön. Aber behaupte hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Mr. Haskins musste mal ein frisches Grab neben dem von Cassandra
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