Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
schrieb ich den soeben erfundenen Namen auf ein Etikett und klebte es auf die Flasche.
»A-qua Fla-via«, wiederholte ich und ließ mir jede Silbe auf der Zunge zergehen. Es klang großartig.
Ich hatte ein Gift erschaffen, das (in entsprechender Menge) einen tobenden Elefanten außer Gefecht setzen konnte. Nicht auszudenken, was es bei einer unverschämten Schwester auszurichten vermochte!
Ein Aspekt von Giften, der oft übersehen wird, ist die diebische Freude, mit der man sich an ihrem puren Dasein berauscht.
Andererseits wird Rache, wie ein kluger Kopf einmal gesagt hat, am besten kalt serviert. Auf diese Weise kann man die Vorfreude auskosten, und das Opfer hat genug Zeit, sich darüber zu ängstigen, wann, wo und wie man wohl zuschlagen wird.
Man stellt sich beispielsweise den Gesichtsausdruck des Opfers vor, wenn die Betreffende begreift, dass das, was sie so-eben trinkt, kein reiner Orangensaft ist.
Ich beschloss, noch ein Weilchen zu warten.
Gladys stand immer noch treu und brav dort, wo ich sie abgestellt hatte. Frisch geputzt glänzte sie in der Morgensonne, die durch mein Zimmerfenster drang.
»Hinfort!«, rief ich. Diese altertümliche Formulierung hatte ich mir eingeprägt, als Daffy uns an einem der von Vater verordneten Vorleseabenden Die Braut von Lammermoor zu Gehör gebracht hatte.
»Und zwar mit uns beiden!«, setzte ich überflüssigerweise hinzu.
Ich sprang auf, radelte zur Zimmertür hinaus, eierte durch den Flur, bog scharf nach links ab und bremste vor der Osttreppe.
Vom Fahrradsattel aus erscheinen Treppen grundsätzlich steiler, als sie eigentlich sind. Die schwarz-weißen Fliesen der Eingangshalle tief unter mir glichen winterlichen Feldern am Fuße eines Berggipfels. Ich betätigte die Handbremse und trat tollkühn die Abfahrt an.
»Hopp-hopp-hopp-hopp-hopp!«, rief ich, ein »Hopp!« für jede Stufe, und ließ mich aufs Angenehmste durchschütteln.
Unten stand Dogger. Er trug eine Leinenschürze und hatte ein Paar von Vaters Stiefeln in der Hand. »Guten Morgen, Miss Flavia«, sagte er.
»Guten Morgen, Dogger. Schön, dass ich dich treffe. Ich hätte da nämlich eine Frage: Wie exhumiert man eine Leiche?«
Dogger hob kaum merklich die Augenbraue. »Hast du vor, einen Toten auszugraben?«
»Nicht eigenhändig. Ich meine eher: Wen muss man da um Erlaubnis fragen und so?«
»Ich glaube, als Erstes muss die Kirche ihre Einwilligung dazu erteilen. Einen ›Dispens‹ nennt man das wohl. Man muss ihn bei der Diözese einholen.«
»Beim Büro des Bischofs?«
»So ungefähr.«
Davon hatte der Vikar also gesprochen. Er hatte Marmaduke Parr, dem Sekretär des Bischofs, vergebens erklärt, dass man ihm eine solche Erlaubnis bereits erteilt habe.
Doch die Erlaubnis zur Exhumierung des heiligen Tankred war offenbar aus irgendeinem Grund wieder zurückgezogen worden.
Aber wer konnte etwas dagegen haben? Wer störte sich daran, wenn die Knochen eines Heiligen ausgegraben wurden, der schon fünfhundert Jahre tot war?
»Du bist ein Pfundskerl, Dogger«, sagte ich.
»Danke, Miss.«
Aus Respekt stieg ich ab und schob Gladys unauffällig durch die Halle und zur Vordertür hinaus.
Auf dem Rasen am Rand des Kieswegs stand ein Campinghocker, daneben lagen alte Lappen und eine Büchse Stiefelwichse. Es war schon so warm, dass Dogger sich zum Arbeiten in die Sonne gesetzt hatte.
Ich wollte eben in Richtung Kirche losradeln, als ein Automobil durch das Mulford-Tor einbog. Die Form des Fahrzeugs war ungewöhnlich, eher kastenförmig, wie bei einem Leichenwagen.
Wenn ich jetzt davonradelte, würde ich etwas verpassen. Also bezähmte ich meine Ungeduld doch lieber.
Ich setzte mich auf den Campinghocker und schaute dem Automobil entgegen, das gemächlich die Kastanienallee entlanggefahren kam. Von vorn erkannte man an dem hohen Kühler, dass es sich um einen Rolls-Royce Landaulet handelte. Der Wagen ähnelte Harriets altem Phantom II, den Vater noch immer wie eine Reliquie in der dunklen Remise hütete. Er hatte die gleichen breiten Kotflügel und riesigen Scheinwerfer.
Allerdings war dieses Fahrzeug apfelgrün lackiert, und das Dach war gleich hinter dem Fahrersitz zurückgeklappt, wie bei einer offenen Sardinendose. Dort, wo eigentlich die Rücksitze hingehörten, stapelten sich verwitterte Holzkisten, randvoll mit Blumentöpfen. Die Töpfe standen dort wie auf den billigen Plätzen einer offenen Mietskutsche, sodass die Setzlinge und jungen Pflanzen die Welt an sich vorüberziehen
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