Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Titel: Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
Vom Netzwerk:
offensichtlich nicht, dass Harriet tot war, und verwechselte mich mit ihr. Sollte ich die Rolle annehmen oder das Missverständnis lieber aufklären?
    Er machte einen Schritt zurück und winkte mich durch die offene Tür herein.
    In solchen Augenblicken stellt man fest, aus welchem Holz man geschnitzt ist; Augenblicke, in denen alles, was man je gelernt hat, gegen die Stimme des Herzens ankämpft. Einerseits wäre ich am liebsten davongerannt – die Treppe hinunter, zur Haustür hinaus, heim nach Buckshaw, rauf in mein Zimmer, hätte die Tür abgeschlossen und die Decke über den Kopf gezogen. Andererseits hätte ich das kleine rundliche Geschöpf am liebsten in den Arm genommen, damit es den Kopf auf meine Schulter legen konnte, und es bis ans Ende aller Tage an mich gedrückt.
    Ich betrat das Zimmer, und er machte die Tür sofort hinter mir zu, als hätte er einen seltenen Schmetterling gefangen.
    »Komm«, sagte er. »Setz dich.«
    Ich folgte ihm. Er wies auf einen Sessel.
    »Du warst lange weg«, sagte er, als ich auf der Armlehne Platz nahm.
    »Stimmt.« Ich beschloss spontan, meinem Instinkt zu folgen. »Ich war weg.«
    »Wie bitte?« Er legte den Kopf schief.
    »Ich war weg«, wiederholte ich ein bisschen lauter.
    »Geht’s dir gut?«, fragte er.
    Seine Stimme war ziemlich tief. Zu tief für einen Jungen, fand ich.
    »Ja«, antwortete ich. »Ganz gut. Und dir?«
    »Ich habe Schmerzen. Aber sonst geht’s mir auch ganz gut.«
    Eine Pause entstand, dann fragte er plötzlich: »Tee?«
    Er ging zu einer Anrichte, auf der eine emaillierte Teekanne auf einer kleinen Kochplatte stand. Er stellte die Kochplatte an und wischte sich, während er wartete, nervös die Finger an den Hosenbeinen ab.
    Ich nutzte die Gelegenheit und schaute mich im Zimmer um: Bett, Kommode mit schwarzer Bibel, Kleiderschrank. Über dem Bett hingen zwei Fotografien. Die eine – sie war schwarz gerahmt – zeigte einen Mann in einer schwarzen Robe, der an einem Tisch stand und die Hand so fest auf die Platte drückte, dass die Knöchel weiß hervortraten. In der anderen Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch. Er schaute hochmütig und verächtlich in die Kamera. Das konnte nur der Richter Ridley-Smith sein.
    Die zweite Fotografie war kleiner und steckte in einem ovalen Rahmen, der nach Bambus aussah. Eine blasse Frau in einem weißen Rüschenkleid schaute erschrocken von ihrer Handarbeit auf, als hätte ihr soeben jemand eine Unglücksbotschaft überbracht. Sie saß auf einer Veranda, hinter der man undeutlich exotische Bäume erkannte.
    Sie kam mir irgendwie bekannt vor.
    Ich schob mich unauffällig näher an das Bild heran.
    Der kleine Mann schaltete die Kochplatte aus, nahm die Kanne herunter und schenkte uns beiden von der teerschwarzen Flüssigkeit ein.
    »Deine Lieblingstasse«, sagte er und reichte mir eine Porzellantasse mit Untertasse, die mit großen blauen Stiefmütterchen verziert war. Der Tassenrand war ziemlich angeschlagen, und von jeder Macke gingen schwärzliche Risse aus, wie bei einer Karte des Amazonas mit allen seinen Seitenflüssen.
    »Danke.« Ich wandte mich von der Fotografie ab. Bevor ich es wagen konnte, ihn nach der darauf abgebildeten Frau zu fragen, musste ich ihn erst ein bisschen besser kennenlernen. »Ist schon ewig her, dass ich eine richtig gute Tasse Tee bekommen habe.«
    Was, von dem Frühstück mit Dogger mal abgesehen, sogar stimmte.
    Ich zwang mich, die Tasse zum Mund zu führen und liebenswürdig zu lächeln, als die bittere Brühe meine Geschmacksknospen malträtierte. Der Sud musste schon seit Monaten vor sich hingeköchelt haben.
    Nach einer langen Pause fragte er: »Was macht Buckshaw?«
    »Ach, da gibt’s nicht viel Neues«, antwortete ich.
    Was ebenfalls stimmte.
    Er schaute mich über den Rand seiner Tasse hinweg aufmerksam an.
    »Im Frühling ist es schön dort«, sagte ich. »Im Frühling ist es immer schön.«
    Er nickte bekümmert, als wüsste er nicht recht, was »Frühling« eigentlich war.
    »Ist der Richter heute zu Hause?«, erkundigte ich mich. Das Risiko, den seltsamen Mann, mit dem ich gerade Tee trank, als Sohn oder Bruder von Mr. Ridley-Smith zu titulieren, wollte ich nicht eingehen. In der Kirche hatte ich ihn noch nie gesehen, und dabei kannte ich die Gemeinde in- und auswendig, vom ältesten Tattergreis bis hin zu Mrs. Langs jüngstem Baby.
    »Vater?«, fragte er zurück. »Mr. Ridley-Smith? Mr. Ridley-Smith ist nie zu Hause.«
    »Ich hätte ihn gern in einer

Weitere Kostenlose Bücher