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Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)

Titel: Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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bloß hereingestolpert?
    Mein Gastgeber saß reglos und ganz in die Musik versunken da. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände im Schoß gefaltet und bewegte stumm die Lippen.
    Bei seiner Schwerhörigkeit würde er leise Geräusche, die dank Schubert obendrein von Musik übertönt würden, nicht mitbekommen. Ich durfte nur keinen Schatten auf sein Gesicht werfen. Ich erhob mich langsam und schob mich mit gletscherhafter Langsamkeit durchs Zimmer, ging rechts um ihn herum, weil ich dadurch nicht am Fenster vorbei musste.
    Als ich die Kommode erreicht hatte, schlug ich die dicke, schwarze Bibel auf.
    Halleluja!
    Wie ich es mir erhofft hatte, rankten sich die Zweige des Familienbaums der Ridley-Smiths vor mir wie Lianen im Dschungel über die Seite. Ganz unten, bei »Geburten«, stand folgender Eintrag:
    Vivian Joyous Ridley-Smith – 1. Januar 1904
    Vivian. So hieß er also. Er war siebenundvierzig Jahre alt.
    Als ich die Bibel wieder zuklappte, streiften meine Finger eine spitze Ecke, die zwischen den nächsten beiden Buchseiten hervorstand.
    Ein Umschlag. Ich zog ihn heraus.
    Auf der Vorderseite stand in einer anmutig geschwungenen – und offenkundig weiblichen – Handschrift: Liebster Jocelyn.
    Der Brief musste aus früherer Zeit stammen. Irgendjemand aus der Familie hatte ihn in die Bibel gelegt. Aber wer war »Jocelyn«, der Empfänger?
    Der Umschlag trug keine abgestempelte Briefmarke, auf der ich ein Datum hätte erkennen können. Er musste persönlich abgegeben worden sein.
    Ich hielt ihn mir vor die Nase und schnupperte daran. Mir stockte das Herz, als ich den Duft kleiner blauer Blumen einsog, den Duft von Bergwiesen und Eis.
    Miratrix!
    Harriets Duft!
    Ich hatte ihn oft genug in ihrem Ankleidezimmer gerochen. Er war mir so vertraut wie mein eigener Handrücken.
    Mit bebenden Fingern öffnete ich den Umschlag und zog ein einzelnes Blatt heraus.
    Liebster Jocelyn, lautete die erste Zeile.
    Jocelyn?
    Dann ging mir ein Licht auf. »Jocelyn« – »Joss« – war eine Abwandlung von »Joyous«!
    Ein Spitzname. Ein Name, mit dem ihn nur seine Familie und seine engsten Freunde – vielleicht sogar nur Harriet – anredeten.
    Liebster Jocelyn,
    ich werde verreisen und kann dich eine Weile nicht besuchen kommen. Unsere Lesestunden werden mir fehlen, aber ich hoffe, du machst auch allein weiter. Denk immer daran, was ich dir gesagt habe: Bücher lassen deine Seele schweben.
    Deine Freundin,
    H.
    P.S. Nach dem Lesen bitte verbrennen.
    Seltsamerweise meldete mir mein Hirn erst jetzt, dass ich gerade Harriets Handschrift las.
    Plötzlich zitterten meine Hände wie Espenlaub. Meine Mutter hatte diese Nachricht verfasst, bevor sie zu ihrer letzten Reise aufgebrochen war.
    Ich schob das Blatt wieder in den Umschlag und legte den Umschlag wieder in die Bibel.
    Nach und nach strömte die Musik wieder in mein Bewusstsein: Die Streicher sägten weiter an ihrer klagenden Melodie.
    Der Tod und das Mädchen.
    Jocelyn lauschte immer noch mit geschlossenen Augen.
    Wie oft hatte Harriet ihn wohl hier besucht? Wie war es ihr gelungen, die vielen Türen zu überwinden – von denen mindestens zwei verschlossen waren?
    Aber vielleicht war vor elf, zwölf Jahren alles noch ganz anders gewesen. Vielleicht war Bogmore Hall damals noch, so wie einst Buckshaw, ein glücklicher Ort gewesen.
    Irgendwie glaubte ich nicht so recht daran. Das Haus war so, wie ich mir einen verlassenen Gerichtssaal vorstellte: kalt und leer, und es roch nach Urteilen, nach dem letzten Gefangenen, der zu seiner Hinrichtung weggeschleppt worden war.
    Von Jocelyn abgesehen. Der war offenbar zu »lebenslänglich« verurteilt worden.
    Ich malte mir gerade aus, was für ein trostloses Dasein er hier fristen musste, als sich meine innere Stimme wieder mit Nachdruck meldete – es ging um die Doppeltür.
    Die Schlösser! Falls dieser Benson, oder wer immer Jocelyns Kerkermeister sein mochte, wirklich nur vergessen hatte, die äußere Tür abzuschließen, dann würde er sie, wenn er irgendwann zurückkam, sofort wieder verriegeln – und dann saß ich ebenfalls in der Falle.
    Ich musste sofort weg von hier! Ganz egal, was ich Jocelyn über seinen Vater, über Harriet oder den Heiligen, der nicht geweckt werden durfte, noch hatte fragen wollen, ich musste es auf ein anderes Mal verschieben.
    Solange er unter seiner Glocke aus Musik saß, konnte ich mich unbemerkt hinausschleichen.
    Ich überlegte kurz, welcher Weg der günstigste war, und setzte mich dann langsam in

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