Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
vorbei und sage ihr, dass der Strauß von uns allen hier auf Buckshaw kommt.«
»Das wär wirklich nett, Kindchen«, sagte Mrs. Mullet. »Du bist immer so aufmerksam.«
Selbstverständlich war ich aufmerksam. Falls das Laudanum Miss Tanty die Zunge löste, wollte ich unbedingt unter den Ersten sein, die hörten, was sie zu erzählen hatte.
Miss Tanty wohnte in einem kleinen Haus auf der Westseite der Cater Street, die von der Hauptstraße aus nach Norden führte, ganz in der Nähe des Dreizehn Erpel.
Ich stellte Gladys neben am Gartentor ab, als Miss Gawl, die Schatzmeisterin der Altardienstgruppe, aus der Haustür trat.
»Miss Tanty ist für niemanden zu sprechen, Kindchen, tut mir leid. Ärztliche Anweisung. Die Blumen kannst du mir geben. Ich stell sie in eine Vase und bring sie ihr nachher.«
Das würde sie nicht tun, da war ich mir sicher. Sie würde die Blumen kurzerhand zur Hintertür hinaus auf den Abfall werfen. Was nicht weiter schlimm war, denn ich hatte sie wie schon den ersten Strauß an der Friedhofsmauer gepflückt.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Miss Gawl.« Ich übergab ihr die Blumen und zog einen besorgten Ausdruck über mein Gesicht wie eine Sturmhaube. »Aber wie geht es ihr denn nun?«
»Sie ruht sich aus«, lautete die Antwort. »Aber sie darf nicht gestört werden. Wir haben ihr eine Injektion verpasst, damit sie schläft.«
Wir haben ihr eine Injektion verpasst?
Dann fiel es mir wieder ein: Miss Gawl war früher Gemeindeschwester gewesen. Deshalb hatte sie auch den Ausdruck »Injektion« benutzt. Jeder andere hätte gesagt: »Wir haben ihr eine Spritze gegeben« oder »was zu schlafen« oder »ein Beruhigungsmittel , damit sie schlafen kann«. Außerdem hätte niemand sonst wir gesagt, sondern: » Der Doktor hat ihr was gegeben, damit sie schläft.«
Was man doch alles aus so einem kleinen Wörtchen schließen kann!
Ich setzte für die Frau mein schönstes Dorftrottelgrinsen auf.
»Dann will ich mal weiter«, sagte ich und musste mich schwer beherrschen, um nicht noch »zur Osterkuh-Preisverleihung« draufzusetzen.
Auch Dreistigkeit hat ihre Grenzen.
Ich schob Gladys bis zum Flussufer am Ende der Straße. Mit demonstrativer Beschränktheit suchte ich eine Handvoll Kiesel zusammen und ließ sie, mit konzentriert aus dem Mundwinkel geschobener Zunge, über die Wasseroberfläche hüpfen.
Eins … zwei … drei …
Als ich mich umdrehte, war Miss Gawl weg.
Ich kehrte sofort zu Miss Tantys Haus zurück, schaute nach links und rechts, um mich zu vergewissern, dass mich niemand sah – dann öffnete ich die Haustür und trat ein.
Drinnen war es viel zu warm, heiß wie im tropischen Dschungel.
Rechts befand sich das Esszimmer mit einem übergroßen Tisch und mehr Stühlen, als wir auf ganz Buckshaw hatten.
Links ging es in das kombinierte Wohn-Musikzimmer mit der üblichen Einrichtung: ein kleiner Flügel, Notenständer, Gipsbüsten von Beethoven und Mozart und noch einem Komponisten, den ich nicht kannte – aha! – Wagner. Sein Name war in den Sockel graviert, und alle drei Herren sahen so kalt aus, als seien sie aus Mondgestein gemeißelt. An das Musikzimmer schloss sich ein kleiner, mit exotisch aussehenden Pflanzen vollgestopfter Wintergarten an. In einem kunstvoll verzierten Drahtkäfig hockte ein Papagei.
»Brave Polly«, sagte ich, um mich mit dem Vogel gutzustellen.
Der Papagei beäugte mich griesgrämig.
»Du bist ja ein hübscher Vogel«, setzte ich hinzu und kam mir dabei reichlich blöd vor, aber es gibt nun mal nicht allzu viele Themen, über die man sich mit einem Vogel unterhalten kann.
Das Vieh ignorierte mich. Vielleicht hatte es ja Hunger. Vielleicht war Miss Tanty so fix und fertig, dass sie vergessen hatte, ihren Vogel zu füttern.
Ich griff nach dem Stück Rindertalg, das zwischen den Käfigstangen klemmte.
Der Papagei stürzte blitzschnell vor, und ich riss die Hand zurück, ehe er mir noch einen Finger abbiss.
Gut möglich, dass ich Polly daraufhin mit einem hässlichen Schimpfnamen bedachte.
»Dann verhungere halt!«, sagte ich und kehrte in die Diele zurück.
Die Küche im hinteren Teil des Hauses war der Ursprung der hohen Temperatur. Dort gab ein großer schwarzer Herd so viel Hitze ab wie die Heizkessel auf der Queen Elizabeth. Außerdem roch es nach Gekochtem. Ich öffnete die größte Herdklappe und lugte hinein. Auf einem Bett aus Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Kohlrüben und Äpfeln brutzelte ein gewaltiger Rinderbraten vor sich
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