Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
das Gefäß, in dem das Blut Christi aufgefangen wurde. Als Josef seinen Stab an der Abtei von Glastonbury niederlegte, schlug er Wurzeln, und daraus entsprang ein Weißdornbusch, wie noch keiner gesehen ward. Das war der berühmte Glastonbury Thorn. Aus einem seiner Äste wurde der Krumm- oder Hirtenstab unseres guten heiligen Tankred geschnitzt, und ein kostbarer Stein mit Namen ›Luzifers Herz ‹ wurde darin eingelassen, der angeblich vom Himmel gefallen war und den einige für den Heiligen Gral selbst halten. – Ich finde ja, das Ganze klingt ziemlich verworren«, setzte ich hinzu.
»Sehr gut«, sagte Adam. »In der Schnitzerei in der Kirche sieht man das gebogene Ende des Krummstabes gleich neben seinem Gesicht.«
»Sie meinen die Schnitzerei, aus der es geblutet hat!«, sagte ich eifrig.
»Hat sich das eigentlich in deinem Labor bestätigt?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, weil ich unterbrochen wurde. Ich habe aber gesehen, dass Sie in der Kirche eine Kostprobe genommen haben. Was meinen Sie denn dazu?«
»Ich warte lieber deine chemische Analyse ab. Dann sehen wir, ob deine Reagenzgläser mit meinen Geschmacksknospen übereinstimmen.«
»Was wollten Sie mir eigentlich sagen?«, fragte ich. »Sie meinten doch vorhin, ich müsse unbedingt etwas wissen.«
Adams Gesicht wurde plötzlich ernst. Dann sagte er: »In den letzten Kriegsjahren führte ein gewisser Jeremy Pole, den ich flüchtig von der Universität kannte, im Nationalarchiv irgendwelche Recherchen durch. Dabei machte er eine erstaunliche Entdeckung. Beim Durchforsten von stapelweise langweiligen mittelalterlichen Urkunden stieß er auf ein kleines Buch, das aus der Bibliothek – dem Skriptorium – der Abtei von Glas-tonbury stammte, die von Heinrich VIII. im Jahre 1539 geplündert wurde – anders kann man es nicht ausdrücken –, und das, obwohl die Benediktinermönche angeblich gut mit dem Königshaus auskamen. Ich würde mal sagen, das beweist vermutlich, dass das Königshaus mit den Benediktinern nicht besonders gut auskam. Du weißt sicherlich, dass auch Westminster Abbey ursprünglich mal ein Benediktinerkloster war. Die Bibliotheken der Benediktiner waren als Schatzkammern seltener, einzigartiger Dokumente bekannt. Besonders die Bib-liothek von Glastonbury erhielt eine ganze Reihe früher, originaler Geschichtsschreibungen Englands.«
Offen gestanden hatte ich das nicht gewusst. Dieser Abschnitt unserer Geschichte war mir bis jetzt noch nicht untergekommen, aber ich wusste es zu schätzen, dass Adam so tat, als wüsste ich Bescheid. Er machte eindeutig Fortschritte.
»Das Eigenartige an Poles Entdeckung war, dass das kleine ledergebundene Buch, obwohl es zwischen lauter schimmelfleckigen Pergamentrollen steckte, weder auf der Ober- noch auf der Unterseite ähnliche Spuren aufwies.«
»Demnach lag es noch nicht so lange dort«, sagte ich.
»Genau. Den gleichen Schluss zog auch Pole.«
»Jemand hatte das Buch dort versteckt.«
»Volltreffer. Bravo.«
Ich widerstand der Versuchung, mir selbst auf die Schulter zu klopfen.
»Als Pole in dem Buch blätterte, stellte er fest, dass es sich um ein auf Lateinisch verfasstes Wirtschaftsbuch handelte, das der Kellermeister von Glastonbury, ein gewisser Ralph, geführt hatte: Ausgaben und so weiter und so fort. Nichts besonders Spannendes. Ein paar Notizen hier und dort, Kommentare zu den Ereignissen in der Abtei: Unwetter, Todesfälle und Dürren. Keine Chronik im eigentlichen Sinne, eher die Aufzeichnungen eines viel beschäftigten Mannes, der sich vor allem mit den Vorratskammern, den Bienen und dem Zustand des Kräutergartens befasste. Wegen des Kräutergartens machte Pole mich auf das Buch aufmerksam. Wie bei vielen klösterlichen Dokumenten waren auch hier die Seitenränder vollgekritzelt – ›Marginalien ‹ nennt man das: Notizen wie ›Eier nicht vergessen‹ oder ›Würzwein für die Magenverstimmung des Abts‹. Würzwein war ein mit Gewürzen versetzter Met aus vergorenem Honig, ein Nebenprodukt der Imkerei, und in den Klöstern damals der letzte Schrei, sozusagen das Guinness des Mittelalters«, meinte Adam augenzwinkernd. Als ich keine Reaktion zeigte, kam er zum Eigentlichen.
»Pole blätterte also lustlos in den Notizen herum – denn eigentlich gehörte so etwas nicht zu seinem Fachgebiet –, als ihm das Wort Adamas ins Auge sprang: das lateinische Wort für ›Diamant‹. Ein sehr ungewöhnliches Wort in den Aufzeichnungen eines Mönchs. In der dazugehörenden
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