Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Florrie, meine Nichte, hat angeboten, sie hinzufahren, weil sie an dem Tag erst gegen Mittag zur Arbeit musste. ›Nein, Florrie‹, hat Crispin – Mr. Collicutt, meine ich – da gesagt. ›Ich muss mich sowieso mal mit der Frau unterhalten. Sie haben sich Ihren halben freien Tag redlich verdient, und ich bin bestimmt gegen Mittag wieder hier.‹«
»Mit ›der Frau‹? Hat er Miss Tanty immer ›die Frau‹ genannt?«
Mrs. Battles Augen schwenkten herum, bis unsere Blicke sich begegneten.
»Nein, nicht immer.«
Ob das wohl die »seltsame Bemerkung« gewesen war, die der Vikar erwähnt hatte?
»Herrje! Da haben Sie und Florence sich bestimmt Sorgen gemacht. Als Ihr Automobil einfach so weg war. Und um Mr. Collicutt natürlich auch.«
»Das Auto war gar nicht weg. Er hat es nicht genommen. Jedenfalls ist er nicht weit damit gefahren. Florrie hat es entdeckt. Es stand vor der Kirche.«
»Aha«, machte ich gleichgültig.
Dann stieß ich einen tiefen Seufzer aus.
»Die Briefe …«, sagte ich entschuldigend.
Sie deutete wieder auf die Treppe.
»Erste Tür links. Ganz oben.«
Unwillkürlich stieg ich die dunkle Treppe so langsam hinauf, als gäbe es Fleißsternchen für Lautlosigkeit, und das, obwohl die vierte und siebte Stufe grässlich knarrten. Die erste Tür links war so klein und so dicht am Treppenabsatz, dass ich sie beinahe übersehen hätte.
Ich drehte den Porzellanknauf und betrat Mr. Collicutts Zimmer.
Wahrscheinlich hatte ich etwas Geräumigeres erwartet. Weil ich die bahnhofsgroßen Schlafzimmer auf Buckshaw gewohnt war, wirkte das kleine Kabuff unterm Dach erschreckend beengt. Es machte den Eindruck, als hätte man auf ein paar Quadratmetern Speicher ein Zimmer für den Notfall eingerichtet und als hätte sich hinterher niemand mehr die Mühe gemacht, alles wieder an seinen angestammten Platz zurückzustellen. Wirklich ein merkwürdiger Raum.
Aber was für einer!
Er quoll von Orgelpfeifen regelrecht über. Wie die Ratten im Rattenfänger von Hameln waren sie überall: große Pfeifen, kleine Pfeifen, zierliche Pfeifen, klobige Pfeifen, braune Pfeifen, schwarze Pfeifen, graue Pfeifen, lohfarbene Pfeifen, schwerfällige Arbeitstiere, junge Hüpfer, Väter, Mütter, Onkel – ein wahres Dickicht aus Holz, Zink, Blei und Messing – ein Labyrinth aus Röhren und Zylindern. Regalbretter voller Register, wie Rinderkoteletts in einer Metzgereiauslage, ein jedes mit seinem auf einer elfenbeinernen Plakette eingravierten Namen: Trompete, Gemshorn, Violine, Gedackt, Rohrflöte, Bordun und so weiter und so fort. Unter die Dachschräge geklemmt stand in der Ecke ein erbärmlich kleines, ordentlich gemachtes Bett.
Einen Augenblick lang war ich so verwirrt, dass ich mich wieder im Orgelgehäuse von St. Tankred wähnte – dort, wo Mr. Collicutt ermordet worden war.
Eine umgedrehte Teekiste diente als Schreibtisch, darauf stapelten sich unordentlich Papiere. Ich stieg über eine große Orgelpfeife, womöglich ein Prinzipal, und nahm das oberste Blatt zur Hand. Es war mit einer ameisenartigen Handschrift überzogen – die Daffy bestimmt »miniskül« genannt hätte.
Die Wiederauferstehung der Renatus-Harris-Orgel in Braxhampstead von 1687 sowie ein Bericht über die Restaurierungsarbeiten, entzifferte ich. Die Zeilen waren zweimal mit roter Tinte unterstrichen, darunter stand: Von Crispin Savoy Collicutt, Mus. B., F.R.D.O.
Wieder darunter hatte jemand mit schwarzer Tinte und in einer anderen Handschrift das Wort Verstorben hinzugefügt.
21
W er konnte so etwas getan haben?
Das schwarze Wort musste erst in den letzten Tagen hinzugefügt worden sein, nach dem Fund von Mr. Collicutts Leiche.
Es sei denn, jemand hatte es schon vorher hingeschrieben – als Warnung.
Hatte Inspektor Hewitt das Blatt auch gesehen? Wahrscheinlich. Aber warum hatte er es nicht als Beweisstück mitgenommen?
Ich blätterte den Papierstapel eilig durch. Es mussten um die fünfhundert Seiten sein. Ja, hier stand es – die Blätter waren durchnummeriert. Fünfhundertdreizehn Seiten, allesamt dicht an dicht mit Mr. Collicutts mikroskopisch kleiner Handschrift bedeckt. Er musste schon als Schuljunge in kurzen Hosen daran gearbeitet haben.
Trotz der gedrängten Handschrift füllten zusätzlich Tausende Ergänzungen und Korrekturen fast jeden Seitenrand, jeweils mit einem dünnen Strich mit der Stelle verbunden, die geändert werden sollte. Da wurde »Durcheinander« zu »Unordnung«, »Einrichtung« zu »Vorrichtung« und so
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