Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
fünfzig Pfund Jahresgehalt auskommen musste.
Ich hob die Scheine nacheinander auf und wollte sie eben wieder in die Dose legen, als mir an dem Umschlag etwas auffiel. Die Lasche war abgerissen, nur noch eine gezackte Kante war übrig.
»Bist du fertig da oben?«
Schon wieder Mrs. Battle. Diesmal unüberhörbar ungeduldig.
Ich faltete die Scheine rasch zusammen und zwängte sie wieder in die Zigarettendose. Dann legte ich mich wieder auf den Bauch und schob die Dose in die hinterste Ecke, hinter ein Bein des Bettgestells.
Den Umschlag steckte ich in die Tasche und ging zur Tür.
Ich schlich mich ans andere Ende des Flurs, schlüpfte durch die Klotür, zog an der Kette und spülte … wartete … spülte noch einmal … und noch einmal, dann knallte ich die Tür zu und hüpfte die Treppe hinunter, wobei ich eine erleichterte Miene aufsetzte.
»Und?« Mrs. Battle hatte die Hände in die Hüften gestemmt.
Ich schüttelte voller Ingrimm den Kopf.
»Nichts. Feely ist bestimmt am Boden zerstört. Versprechen Sie mir bitte, dass Sie die Angelegenheit vertraulich behandeln.«
Mrs. Battle funkelte mich erst misstrauisch an, dann wurde ihr Blick weicher. Ein angedeutetes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ob du’s glaubst oder nicht, ich war auch mal jung. Von mir erfährt niemand ein Sterbenswörtchen.«
»Vielen, vielen Dank!«, flötete ich und setzte hinzu: »Ist Ihre Nichte zufällig da? Ich würde ihr gern persönlich für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber Miss Tanty danken. Meine Schwes-ter ist sehr froh darüber, wegen dem Chor und so weiter. Miss Tanty ist einfach ein Schatz, finden Sie nicht auch?«
»Florence ist arbeiten.« Mrs. Battle hielt mir die Tür auf. »Ich richte es ihr aus.«
»Danke.« Ich haschte fieberhaft nach dem kleinsten Fitzelchen Information. »Sie ist doch Haushälterin bei den Fosters, nicht wahr?«
Es war ein Schuss ins Blaue.
»Haushälterin?« Mrs. Battle rümpfte die Nase. »Wohl kaum. Florence ist die Privatsekretärin von Mr. Ridley-Smith, dem Richter.«
Zu Hause, zu Hause, Juchheirassa! Ohne Gladys hätte ich mir längst die Füße wund gelaufen.
Oben in meinem Labor holte ich eine Taschenlampe aus einer Schublade und begab mich in die Dunkelkammer, die sich Onkel Tar für seine Fotos in einer Ecke eingerichtet hatte.
Lichtdicht. Finster wie im heiligen Grab.
Ich knipste die Taschenlampe an und holte den Briefumschlag heraus.
In Mr. Collicutts Zimmer hatte ich auf dem Papier winzige Unregelmäßigkeiten ertastet. Warum, hatte ich überlegt, riss jemand die Lasche von einem Umschlag ab, in dem er Geld aufbewahrte? Die Antwort lag auf der Hand: um das loszuwerden, was darauf geschrieben stand.
Ich legte den Umschlag mit dem Gesicht nach oben vor mich hin und die Taschenlampe auf den Tisch daneben. Ein Stück Pappe verengte den Strahl.
Der Lichtstrahl fiel in schrägem Winkel, beziehungsweise im rechten Winkel, über das Papier. Jetzt müsste jede noch so leichte Unebenheit sofort ins Auge springen.
Ich nahm eine Lupe zur Hand und beugte mich vor.
Voila!, wie Daffy sagen würde.
Das Papier war alt und von ausgezeichneter Qualität, so wie man es vor dem Krieg für seine Privatkorrespondenz benutzt hatte. Nicht zu vergleichen mit den billigen, dünnen, glatten Blättern, auf denen Vaters Gläubiger ihm regelmäßig ihre Rechnungen schickten.
Die fehlende Lasche war mit einem Wappen oder Monogramm bedruckt gewesen, das nach der langen Aufbewahrung in der engen Dose, oder vielleicht auch beim Prägen, einen leichten Abdruck auf der unbeschriebenen Vorderseite des Umschlags hinterlassen hatte.
Kaum sichtbar, aber im Streiflicht der Taschenlampe war das Monogramm gerade noch zu entziffern:
QRS
Irgendwas Ridley-Smith.
Ridley-Smith, schrieb ich in mein Notizbuch. Ridley-Smith, der Vater, nicht der Sohn. Wie hieß der Mann doch gleich mit Vornamen?
Der Richter Ridley-Smith – der Justiziar Ridley-Smith – hatte Mr. Collicutt sechshundert Pfund in Scheinen übergeben oder geschickt. Jenem Mr. Collicutt, von dem es im Dorf hieß, er sei zu arm, um seine Taschentücher und Chorhemden zum Waschen und Bügeln in die Reinigung zu geben.
Es ist bestimmt kein Zufall, dass Mrs. Battles Nichte Florence für Ridley-Smith arbeitet, schrieb ich. Vielleicht war sie unwissentlich in die Sache verwickelt.
Vielleicht steckten sie alle zusammen mit drin.
Warum in aller Welt sollte ein hoher Beamter Seiner Majes-tät, ein Justiziar der Kirche von England, einem Dorforganisten
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