Fleisch
Himmel, sogar in seinem Hals! Es sah aus, als hätte ihn jemand immer wieder mit Stacheldraht umwickelt und ihn festgezogen, damit jeder Stachel tief in ihn drang. War es möglich, dass er in einen Zaun gelaufen war und sich diese Verletzungen versehentlich selbst zugefügt hatte?
„M-m-m-mir … heiß“, stotterte er.
Maggie ging in die Hocke und legte die Taschenlampe neben sich auf den Boden, um ihn ganz sehen zu können. Da war so viel Blut! Jetzt spürte sie es auch, feucht an ihren Händen und auf ihrer Jeans, dort, wo sie hingefallen war. Am liebsten hätte sie Donny zu Hilfe gerufen. Lebende Verunglückte war sie einfach nicht gewöhnt.
In ihren zehn Jahren beim FBI hatte Maggie grausame und brutale Wunden gesehen, blutige, verstümmelte Leichen, Organteile, die in Gefäßen zurückgelassen worden waren, und ihr war nur ein einziges Mal an einem Tatort schlecht geworden.
Aber jetzt war ihr übel, ein klammes Frösteln kroch Arme und Rücken hinauf, und es erforderte einige Anstrengung, ruhig zu atmen und das Pochen in ihrer Brust zu ignorieren. Das Schlimme war nicht, das Blut zu sehen, das immer nochaus dem lebendigen Körper floss, sondern ihre Hilflosigkeit. Die Tatsache, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte. Sie dachte, sie hätte die Erinnerungen erfolgreich verdrängt, doch plötzlich und wie aus dem Nichts wurde sie von den Bildern überflutet, wie ein Killer sie vor langer Zeit gezwungen hatte, ihm zuzusehen. Es waren nicht die Blutspritzer oder die Schreie des Opfers gewesen, die ihr Albträume bereitet hatten, sondern vielmehr das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit.
Sie dachte noch einmal darüber nach, Donny zu rufen, aber sie wollte nicht laut sein. Sie bewegte sich auch so wenig wie möglich, weil sie den Jungen nicht noch mehr beunruhigen wollte, als er es ohnehin schon war.
Dunkle Blutlachen bedeckten die Blätter und Nadeln unter ihm. Sein T-Shirt war nass und rostrot, aber der durchdringende Geruch kam nicht vom Blut. Es stank nach versengtem Haar und verkohltem Fleisch. Maggie untersuchte erneut den Stacheldraht. Sie konnte keinen Draht ausmachen, der keine Stacheln gehabt hätte, also unter Strom gestanden haben könnte wie der, den Donny ihr vorhin gezeigt hatte.
Sie beugte sich nah genug über den Hals des Jungen, um erkennen zu können, dass das Blut um die rasiermesserscharfen Spitzen herum geronnen war. Das war gut. Es strömte dort kein Blut mehr heraus, was bedeutete, dass die Halsschlagader höchstwahrscheinlich unversehrt war. Aber seine Halsmuskeln drückten gegen den Draht, und eine blaue Vene pulsierte unter der hellen, geröteten Haut.
„Ach du Scheiße!“, flüsterte Donny hinter ihr, und Maggie verkniff sich einen Seufzer der Erleichterung.
Die Blicke des Jungen suchten nicht nach der neuen Stimme. Sie blieben unten, auf Maggie gerichtet. Fest und beständig. Das war gut. Er konzentrierte sich auf sie. Oder vielleicht war es doch nicht so gut. Sie hatte keine Ahnung, ob sie leisten konnte, was er sich von ihr erwartete.
„Ich bin mir nicht sicher, ob er noch blutet“, sagte sie, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Sie war erstaunt, dass ihreStimme bemerkenswert ruhig und gefasst klang. „Aber er steht definitiv unter Schock.“
„Können wir ihn so bewegen oder losschneiden?“
Maggie war versucht zu sagen: Sollten Sie das nicht eigentlich wissen? Ich kenne mich nur mit Toten aus . Stattdessen atmete sie tief ein und wühlte in ihrer inneren Datenbank. Vor einigen Jahren war sie in einem dunklen, feuchten Tunnel angestochen worden, meilenweit entfernt von jeder Hilfe. Wieder so eine Erinnerung, die sorgfältig in einem anderen Teil ihres Gehirns verstaut gewesen war. Aber sie wusste noch genau, dass sie nicht so viel Blut verloren hätte, wenn der Täter das Messer hätte stecken lassen, anstatt es wieder herauszuziehen.
„Ich denke, wenn wir versuchen, die Stacheln zu entfernen, könnte es von Neuem zu bluten anfangen. Und ich weiß auch nicht, ob er dabei überhaupt stillhalten könnte.“
„Verdammte Scheiße“, murmelte Donny.
Maggie beobachtete nach wie vor die Augen des Jungen und versuchte auszumachen, ob er verstehen konnte, worüber sie sprachen und was sie gerade gesagt hatte. Wenn er es tat, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Augen zuckten nicht mehr hin und her. Sie waren zwar noch ein wenig flatterhaft, blieben aber immer auf Maggies Gesicht gerichtet. Sie hatte ihn noch nicht ein Mal blinzeln sehen.
„Kannst du mich
Weitere Kostenlose Bücher