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Fliege machen

Fliege machen

Titel: Fliege machen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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sofort kondensierende Wolke für Rauch
hielten.

    Glücklicherweise blieb die bekannte Situation, in der
alle deinen ersten Zug gespannt verfolgen, aus. Niemand erwartete, dass ich
hustete, kotzte oder öffentlich erstickte. Engel und Dicke kamen gar nicht auf
den Gedanken, ich würde vielleicht nicht regelmäßig kiffen. Der Joint war so
normal für sie, als hätte ich mir einen Kaugummi in den Mund geschoben.

    Wusste Engel überhaupt, dass Drogen für ihr ungeborenes
Baby eine Behinderung bedeuten konnten? Sie war noch so jung, hatte sie sich
schon mal damit beschäftigt?

    Ich musterte Engels runden Babybauch.

    Vielleicht war es ihr auch egal? Sie hatte doch bestimmt
kein Baby gewollt. Sie würde es höchstwahrscheinlich nicht behalten können,
minderjährig und obdachlos, wie sie war. Wollte sie dem Baby womöglich
absichtlich schaden?

    Ich reichte den Joint an die Schwangere weiter.

    Engel hatte bemerkt, dass ich sie anstarrte. Ich steckte
schnell meine Zigarette an, um endlich echten Rauch auspusten zu können.

    Â»Was ’n los bei dir zu Hause?«, tastete sich die Schwangere
an mich heran.

    Na klar, überall galten die gleichen Regeln. Egal ob man
einem Sportverein oder einer Obdachlosenclique beitreten wollte: Bevor man ins
Team aufgenommen wurde, musste man zeigen, dass man auch spielen konnte.

    Â»Der übliche Stress mit den Alten«, winkte ich ab.

    Ich ließ meinen Blick zur Straße hinüberschweifen, wo der
rostige Flugzeugcontainer aus der Kreuzung ragte.

    Â»Sollteste aufhören, in der Wohnung zu rauchen?«

    Â»Oder ’ne Ausbildung machen, oder was?« Dickes Stimme
hatte einen knurrenden Unterton, der irgendwie ganz gut zu ihrem
Kampfhundgesicht passte.

    Na, ein Rauchverbot in der Wohnung konnte wohl kein Grund
sein, auf der Straße zu leben. Oder?

    Ich musterte die Dicke abschätzend. Doch ihre Speckschicht
machte es unmöglich zu erahnen, was in dem Menschen darunter vorging.

    Â»Nö«, antwortete ich schließlich.

    Die beiden sahen mich abwartend an.

    Eine interessante Geschichte für einen Schlafplatz,
schien der Deal zu lauten.

    Na schön. Interessante Geschichten waren meine Spezialität.

    Normalerweise bleibe ich, wenn ich lüge, so dicht wie
möglich an der Wahrheit. Wichtige Regel, wenn man oft und glaubhaft lügen will.
Denn so kann man sich die eigene Geschichte selbst besser merken.

    Ich registrierte sehr wohl, dass ich mich heute nicht an
diese Regel hielt.

    Â»Mein Vater hat mich verprügelt, seit ich denken kann«,
berichtete ich knapp. »Mit sechs lag ich mit einem Schädelbasisbruch im
Krankenhaus, dann kamen mit zehn drei Rippen, mit zwölf der Arm, mit dreizehn
wieder die Rippen und mit fünfzehn der Kiefer.«

    Tief sog ich das Gemisch aus Zigarettenrauch und Winterluft
in meine Lungen. In diesem Fall passte die Wahrheit einfach zu gut.

    Â»Die Gehirnerschütterungen hab ich nicht gezählt.«

    Engel hatte vergessen, den Joint zum Mund zu bewegen.

    Merkwürdig, wie leicht es mir mittlerweile fiel, darüber
zu sprechen. Hätte ich geahnt, dass es einfacher wurde, je öfter man es
erzählte, hätte ich nicht jahrelang geschwiegen.

    Â»Meine Mutter und mein Bruder haben es gewusst. Haben
aber nichts unternommen. Sie meinten wohl, ich hätte die Schläge verdient.« Ich
nahm Engel den Joint aus der Hand. »Wahrscheinlich hatten sie recht.«

    Â»Und was hast du gemacht?« Dicke griff nach der Tüte.
Ihre kräftigen, kurzen Wurstfinger steckten in Handschuhen, aus denen die
Fingerspitzen herausguckten.

    Was hatte ich gemacht?

    Ich zuckte die Schultern: »Schule geschwänzt, gesoffen,
unmögliche Typen angeschleppt.«

    Das alles war tatsächlich erst ein paar Monate her. Mir
kam es unwirklich vor, als wäre es gar nicht mein Leben, über das ich
berichtete.

    Â»Immerhin hab ich mal einen Selbstverteidigungskurs gemacht,
weil ich mich wehren wollte«, schloss ich meine Geschichte mit einer der
bewährten Dicht-an-der-Wahrheit-Schwindeleien. Dass der Selbstverteidigungskurs
in Wirklichkeit gut zehn Jahre Kampfsport-Training waren, brauchte sich nicht
herumzusprechen. Man konnte ja nie wissen, wann man den Überraschungseffekt mal
brauchte.

    Â»Und?«, fragte Engel wieder. »Hast du? Dich gewehrt,
meine ich?«

    Ich schüttelte den Kopf. »Hab mich nie getraut.«

    Das würde mir heute nicht

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