Flinx
der Vergangenheit hatte er sich immer ihren Schmerzen entziehen können, aber dieses Gefühl - dieses leere Alleinsein - war anders als jede Einsamkeit, die er bisher erlebt hatte. Sie war eine körperliche Realität, die an ihm fraß, und die in einem geheimnisvollen neuen Teil seines Gehirns Schmerz erzeugte. Sie war anders, nicht nur als seine eigene Einsamkeit, aber auch anders als das Alleinsein, das er gelegentlich vermittels seines Talents bei anderen empfunden hatte.
Tatsächlich war das, was er jetzt erlebte, so radikal, dass es für ihn nichts gab, womit er es vergleichen konnte. Und doch war es Einsamkeit; dessen war er sicher. Einsamkeit und noch etwas anderes, das ebenso intensiv und erkennbar war: Hunger. Eine nagende, hartnäckige Gier nach Nahrung.
Die Gefühle waren so klar und unkompliziert, dass Flinx sich unwillkürlich fragte, woher sie rührten. Sie trommelten hartnäckig auf sein Bewusstsein ein und wollten nicht verblassen. Noch nie zuvor waren solche Emotionen für ihn so offen, so klar und so stark gewesen. Normalerweise verblassten sie immer wieder, aber diese wurden nicht schwächer, sondern stärker - und er schaffte es nicht, sie unter Kontrolle zu halten. Sie hämmerten unablässig auf ihn ein, bis sein Bewusstsein schließlich nachgab und ihn weckte.
Flinx rieb sich die Augen.
Das schmale Fenster über dem Bett ließ das schwache Licht der Monde herein, das irgendwie durch die dünne Wolkendecke sickerte. Flinx hatte den hell rostroten Mond, der Flamme hieß, selten gesehen, ebenso auch seine kleineren Begleiter, aber er hatte seine Studienjahre gut verbracht und wusste, woher das Licht kam.
Er schlüpfte lautlos aus dem Bett, stand auf, zog Hose und Hemd an. Ein warmes Leuchten hüllte die Küche und den Essplatz in weiches, gelbes Licht. Aus Mutter Mastiffs Schlafzimmer drangen kräftige Schnarchlaute. Die Einsamkeit, die er fühlte, kam nicht von ihr.
Das Gefühl verharrte in seinen Wachzustand hinein. Es war also kein Traum gewesen, wie er zuerst geglaubt hatte. Sein Kopf schmerzte, so kräftig war die Empfindung. Aber obwohl der eigentliche Schmerz jetzt zu verblassen begann, war die Empfindung selbst immer noch so stark, wie sie im Schlaf gewesen war.
Er weckte Mutter Mastiff nicht, während er die Küche, das Badezimmer und den engen Garderobenraum durchsuchte. Dann öffnete er lautlos die Tür und schlüpfte in den Laden hinaus. Die Läden waren abgeschlossen und hielten Wetter wie ungebetene Eindringlinge fern. Das vertraute Schnarchen lieferte ihm einen beruhigenden Hintergrund zu seiner Suche.
Flinx war inzwischen zu einem gelenkigen jungen Mann von etwas unterdurchschnittlicher Größe und einigermaßen attraktivem Aussehen herangewachsen. Sein Haar war so rot, wie es auch in seiner Knabenzeit gewesen war, aber seine dunkle Haut überdeckte seine Sommersprossen. Er bewegte sich mit einer Eleganz und einer Lautlosigkeit, um die ihn viele der älteren erfahreneren Marktdiebe beneidet hätten. Tatsächlich war er imstande, durch einen mit Glasscherben übersäten Raum zu gehen, ohne dabei das leiseste Geräusch zu erzeugen. Es war dies eine Technik, die er sich sehr zum Leidwesen von Mutter Mastiff von einem der weniger angesehenen Bürger Drallars angeeignet hatte. Das war alles ein Teil seiner Erziehung, hatte er ihr versichert. Die Diebe hatten ein besonderes Wort dafür: ›Schattengang‹, also gehen wie ein Schatten. Nur Flinx grellrotes Haar ließ die professionellen Übeltäter missbilligend die Köpfe schütteln. Sie hätten ihn gerne in ihrer Mitte aufgenommen, falls er den Wunsch verspürt hätte, den Diebesberuf zu ergreifen. Aber Flinx stahl nur, wenn es absolut notwendig war, und auch dann nur von solchen, die es entbehren konnten.
»Ich will meine Fähigkeit nur gebrauchen, um mein Einkommen aufzubessern«, hatte er dem alten Meister erklärt, der sich nach seinen künftigen Absichten erkundigt hatte, »und das von Mutter Mastiff natürlich.«
Der Diebesmeister hatte gelacht und dabei seine Stummelzähne sehen lassen. »Ich verstehe, Junge. Ich hab mein Einkommen auf die Weise jetzt schon fünfzig Jahre aufgebessert.« Er und seine Kollegen konnten es nicht glauben, dass jemand, der solche Fähigkeiten zeigte, andere um ihre Habseligkeiten zu erleichtern, nicht auch den Wunsch verspürte, diese Laufbahn zu ergreifen, ganz besonders, wo die anderen Aussichten des jungen Mannes recht unsicher schienen.
»Du wirst wohl in die Kirche eintreten, nehme ich
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