Fluch der Engel: Roman (German Edition)
stand kurz davor, mich zu verwandeln. Allerdings wusste ich nicht, ob in einen Engel oder einen Schatten. Zu viele widersprüchliche Gefühle tobten in mir. Eine Seite wollte umkehren und sich Massimos Seele holen, die andere trieb mich, das Boot durch den Kanal zu bugsieren – noch war sie stärker.
Als ich die offene Lagune erreichte, wagte ich es, einen Blick zurück auf Sanctifers Insel zu werfen. Die alten Ruinen wirkten leer, wie ausgestorben. Doch ich wusste, dass die dunklen Engel mich verfolgen würden, sobald Sanctifer ihnen befahl, auch außerhalb des Palastes nach mir zu suchen. Vermutlich bei Nacht, damit niemand seine Kreaturen entdeckte.
Ich vertraute Raffael und steuerte auf das offene Meer zu. Bestimmt lauerten schon ein paar von Sanctifers Wachen in Venedig, um mich zurückzuholen – vielleicht sogar Sanctifer selbst. Dass es mir gelungen war, mich loszureißen, verdankte ich allein Raffael.
Deutlich sah ich ihn vor mir, sein Entsetzen, als ich nicht wusste, ob ich bleiben oder fliehen wollte. Er hatte miterlebt, was Sanctifer aus Gabriella gemacht hatte, und wusste, dass er dasselbe mit mir vorhatte. Darum hatte er mir geholfen. Doch den dämonischen Teil in mir konnte Raffael nicht beeinflussen. Das konnte nur ich selbst – und der Engel, den ich betrogen hatte.
Um mich nicht im offenen Meer zu verirren, folgte ich dem belebten Küstenstreifen. Ich hielt Abstand von den Stränden mit ihren sonnenhungrigen Menschen, weil ich wusste, dass ich nur noch wenig Menschliches besaß. Das Einzige, was mich noch zusammenhielt, war meine Engelseele. Sie weigerte sich, dem Schatten Platz zu machen. Doch sie war nicht mehr stark genug, ihn zum Schweigen zu bringen – und ich zu schwach, die Angst zu besiegen, die in mir wuchs.
Schon kurz nach Einbruch der Dämmerung schreckte ich jedes Mal zusammen, sobald sich mir ein Boot näherte. Selbst die Tümmler, die mich begleiteten, wurden für mich zu dunklen Schattenwesen.
In Pescara, einem ehemaligen Fischerdorf, in dessen Nähe ich viele Sommertage mit meinen Freunden verbracht hatte, ging ich an Land. Meine Klauenhände verborgen unter einer luftigen Sommerjacke, schlich ich zum Bahnhof und nahm den Nachtzug nach Sulmona. Der Stadt, in der ich viele Jahre zur Schule gegangen war.
In Coelestins Einsiedelei in den Bergen über Sulmona wollte ich Zuflucht suchen. Dort lebten Engel, denen ich vertrauen konnte. Sie würden Aron holen und mir helfen. Mir, Philippe, Lucia und all den Menschen, die Sanctifer gezwungen hatte, sich an Engel zu binden. Und auch Raffael.
Raffael! Wie immer zog sich mein Magen zusammen, sobald ich an ihn dachte und an das, wozu Sanctifer ihn gezwungen hatte.
Um den forschenden Blicken der Fahrgäste zu entkommen, versteckte ich mich in der Zugtoilette. Obwohl ich todmüde war, verbot ich mir, einzuschlafen. Ich wollte nicht unvorbereitet sein, wenn Sanctifers dämonische Schatten mich fanden. Denn die Angst,plötzlich einem von ihnen gegenüberzustehen, fraß mich beinahe auf.
Kurz nach Mitternacht erreichte ich Sulmona, aber ich war viel zu erschöpft, um noch in der Nacht zur Eremitage hochzusteigen. Außer schroff abfallenden Felskanten gab es nur einen schmalen Pfad dort hinauf. Eine perfekte Stelle für Sanctifers dunkle Engel, um mir aufzulauern. Besser, ich ging bei Tagesanbruch.
Es zog mich zur Kathedrale, einem Ort, wo ich um diese Zeit vermutlich keinem Menschen mehr begegnen würde, der vor mir zurückwich – und hoffentlich auch keinem anderen Geschöpf. Vor ein paar Monaten hatte ich hier mit meinen Freunden Weihnachten gefeiert – zumindest so lange, bis Christopher mich aufgespürt hatte. Dass diese Erinnerung nicht zu meinen schönsten gehörte, half mir, Christopher wieder aus meinen Gedanken zu verdrängen.
Mir wurde schwarz vor Augen, als ich die Kirche betrat. Ich schob meine Schwäche auf Übermüdung. Schließlich war die Kirche nicht mit Engelsmagie gesichert. Erst, als ich den mit weißen Sommerblumen geschmückten Altar entdeckte, ahnte ich, dass mehr hinter dem Schwindelgefühl steckte als Müdigkeit. Doch es war nicht der Altar oder der üppige Blumenduft, der mich anzog, sondern das, was darunter verborgen lag.
Das Gitter unter dem Altarstein beiseitezuschieben, war einfach. Auch den Weg durch die Krypta in den niedrigen Raum mit dem gläsernen Sarg, wo Coelestins sterbliche Überreste ruhten, fand ich auf Anhieb. Selbst hier, in der Menschenwelt, konnte ich die Energie spüren, die diesen Ort
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