Fluch, Der: Roman
aber es war kein Krebs. Krebs wäre viel zu schnell, viel zu freundlich gewesen. Es handelte sich um etwas anderes, und die Entfaltung der Krankheit hatte erst begonnen.
Im Geiste hörte er eine Zugführerstimme: Nächster Halt, Anorexia Nervosa! Bitte alles aussteigen! Anorexia Nervosa!
Geräusche drangen aus seinem Hals, ein Gelächter, das wie Schreien klang. Vielleicht waren es auch Schreie, die wie Gelächter klangen, war das so wichtig?
Mit wem kann ich darüber reden? Heidi? Sie wird mich für verrückt erklären.
Aber Billy Halleck war in seinem Leben nie bei klarerem Verstand gewesen.
Die Außentür der Herrentoilette wurde aufgerissen.
Halleck zog sich erschrocken in die Zelle zurück und ver-riegelte die Tür.
»Billy?« Sein Assistent John Parker.
»Ich bin hier drinnen.«
»Boynton kommt gleich zurück. Alles in Ordnung?«
Halleck hatte die Augen geschlossen. »Mir geht's gut.«
»Haben Sie wirklich Blähungen? Ist etwas mit Ihrem Magen?«
Schon gut, schon gut, es ist mein Magen.
»Ich geh kurz mal weg, um ein Paket aufzugeben. Bin in einer Minute wieder zurück.«
»Ist gut.«
Parker ging weg. Hallecks Aufmerksamkeit war ganz und gar von seinem Gürtel in Anspruch genommen. Er konnte nicht in Boyntons Gerichtsverhandlung zurückgehen und die Hose immer noch durch die Taschen festhalten. Was, um Himmels willen, sollte er tun?
Plötzlich fiel ihm sein Schweizer Taschenmesser ein - das gute alte Taschenmesser, das er, bevor er sich wog, immer aus der Hose genommen hatte. In der guten alten Zeit, bevor die Zigeuner nach Fairview gekommen waren.
Keiner hat euch Arschlöcher gebeten, zu uns zu kommen – hättet ihr nicht statt dessen nach Westport oder Stratford fahren können?
Er holte sein Messer aus der Tasche und bohrte ein siebtes Loch in den Gürtel. Es war zerfranst und unschön, aber es funktionierte. Dann zog er den Gürtel durch die Schlaufen, schnallte ihn fest und streifte das Jackett über. So verließ er die Zelle. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, wie sehr ihm die Hose um die Beine - seine dünnen Beine - schlackerte.
Ob das auch schon anderen aufgefallen ist? Eine neue, bohrende Verlegenheit befiel ihn. Haben sie gesehen, wie schlecht meine Kleidung sitzt? Haben sie es gesehen und so getan, als wäre nichts?
Haben sie darüber geredet...?
Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und verließ die Herrentoilette.
Als er den Gerichtssaal betrat, rauschte Richter Boynton gerade mit einem Rascheln seiner schwarzen Robe herein. Er blickte Billy strafend an, der eine matte Entschuldigungsgeste andeutete. Boyntons Gesichtsausdruck blieb unverändert, die Entschuldigung wurde eindeutig abgelehnt.
Die Monotonie begann von vorn. Irgendwie schaffte Billy es, den Tag zu überstehen.
In der folgenden Nacht, als Heidi und Linda fest schliefen, stellte er sich auf die Waage, sah hinunter, und konnte es nicht glauben. Er blickte die Zahlen lange, sehr lange an.
9. Kapitel: 188
Am nächsten Tag fuhr er in die Stadt und kleidete sich neu ein. Den Einkauf erledigte er in fieberhafter Eile, so als ob neue Hosen, Hosen, die ihm richtig paßten, die Lösung aller Probleme wären. Er kaufte sich auch einen engeren Ledergürtel. Ihm fiel auf, daß die Leute ihn nicht mehr zu seiner Gewichtsabnahme beglückwünschten. Wann hatte das angefangen? Er wußte es nicht.
Er zog sich die neuen Sachen an. Er fuhr zur Arbeit und kam wieder nach Hause. Er trank zuviel, bediente sich beim Essen zweimal und verzehrte Nahrungsmengen, die er eigentlich gar nicht wollte und die ihm schwer im Magen lagen. Eine Woche verging, und dann saßen die Kleider nicht mehr so passend und glatt an seinem Körper, sondern fingen an zu beulen.
Er schlich sich zur Badezimmerwaage. Sein Herz pochte, seine Augen brannten, und der Kopf schmerzte. Später entdeckte er, daß er sich so stark auf die Unterlippe gebissen hatte, daß sie blutete. Der Anblick der Waage löste einen kindischen Schrecken aus – sie war zu einem Kobold in seinem Leben geworden. Er stand vielleicht volle drei Minuten vor ihr, kaute auf seiner Unterlippe und spürte weder den Schmerz noch den salzigen Blutgeschmack im Mund. Es war am Abend. Unten saß Linda vor dem Fernseher und sah sich Three's Company an. Heidi ging am Commodore-Computer in seinem Büro die wöchentlichen Haushaltsrechnungen durch.
Mit einem kleinen Satz hüpfte er auf die Waage.
Er spürte, wie sein Magen sich in einer einzigen, schwindelerregenden Wendung umdrehte. Einen
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