Fluch, Der: Roman
grunzte. Die Verhandlung schleppte sich dahin, und Halleck schwitzte auf seinem Stuhl und fragte sich, wie um alles in der Welt er später aufstehen sollte.
Zehn Minuten später zog das Gericht sich zurück. Halleck blieb an seinem Verteidigertisch sitzen und tat so, als müsse er noch einen Stapel Papiere sortieren. Als der Saal so gut wie leer war, stand er, die Hände tief in den Taschen der Anzugjacke vergraben, auf und hoffte, daß diese Geste leger aussähe. In Wirklichkeit hielt er durch die Taschen seine Hose fest.
Allein in der Herrentoilette, zog er das Jackett aus und hängte es an einen Haken. Dann blickte er auf seine Hose hinab und zog den Gürtel heraus. Mit geschlossenem Reißverschluß rutschte sie bis zu den Knöcheln hinunter. Sein Kleingeld klirrte gedämpft, als die Taschen auf den Kacheln aufschlugen. Er setzte sich auf die Toilette und hielt den Gürtel hoch wie eine Schriftrolle. Es war, als könne er in ihm lesen. Der Gürtel erzählte ihm eine Geschichte, die alles andere als beruhigend war. Er hatte ihn vor zwei Jahren von Linda zum Vatertag geschenkt bekommen. Er hielt sich den Gürtel vor die Nase und spürte, wie sein Herz vor Angst schneller und schneller schlug.
Die tiefste Einkerbung dieses Ledergürtels lag genau hinter dem ersten Loch. Seine Tochter hatte ihn etwas zu klein gekauft, und Halleck erinnerte sich, daß er damals – reuevoll – gedacht hatte, daß dies ein verzeihlicher Optimismus ihrerseits gewesen war. Eine lange Zeit war der Gürtel jedoch ganz angenehm zu tragen gewesen. Erst nachdem er zu rauchen aufgehört hatte, war es immer schwieriger geworden, ihn zu schließen, selbst wenn er, zum Schluß, das erste Loch benutzte.
Nachdem er mit dem Rauchen aufgehört... aber bevor er die Zigeunerin überfahren hatte.
Jetzt zeigte der Gürtel weitere Einkerbungen auf: nach dem zweiten Loch ... dem vierten ... und dem fünften ... schließlich nach dem sechsten, dem letzten.
Mit wachsendem Entsetzen stellte Halleck fest, daß die Einkerbungen hinter den letzten Löchern immer undeutlicher wurden. Sein Gürtel erzählte ihm eine kürzere und wahrere Geschichte, als es Michael Houston gelungen war.
Der Gewichtsverlust dauerte immer noch an – und verlangsamte sich ganz und gar nicht; er wurde immer schneller. Er glaubte, sich zu erinnern, daß er erst vor zwei Monaten zum ersten Loch des Gürtels hatte Zuflucht nehmen müssen. Damals hatte er überlegt, daß er ihn bald als zu klein ablegen müßte. Und jetzt brauchte er ein siebtes Loch, eines, das nicht vorhanden war.
Er sah auf die Uhr und bemerkte, daß er bald in den Gerichtssaal zurückmußte. Aber es gab Wichtigeres auf der Welt als Richter Boyntons Entscheidung, ob ein letzter Wille nun in ein gerichtlich beglaubigtes Testament umgeschrieben wurde oder nicht.
Halleck lauschte aufmerksam. In der Herrentoilette war es ganz still. Er hielt die Hose mit einer Hand und trat aus der Zelle. Dann ließ er sie wieder fallen und betrachtete sich dabei in einem der Spiegel, die über den Waschbecken hingen. Er schlug die Hemdzipfel hoch, um einen besseren Blick auf den Bauch werfen zu können, der bis vor kurzem noch sein ganzer Kummer gewesen war.
Ein leiser Laut entschlüpfte seiner Kehle. Das war alles, aber es war genug. Die selektive Wahrnehmung war nicht mehr aufrechtzuerhalten; mit einem Schlag war alles zerstört. Er sah, daß der kleine Spitzbauch, der seinen Wanst ersetzt hatte, nun auch verschwunden war. Die Hose um die Knöchel, das Hemd und die aufgeknöpfte Weste weit über den Brustkorb hinaufgezogen, stand er vor dem Spiegel und konnte trotz dieser mehr als lächerlichen Pose den Tatsachen nicht mehr ausweichen. Sie waren mehr als deutlich. Daß man sich selbst über reale Fakten noch streiten kann, lernte man schnell im Anwaltsberuf - aber das, was ihm hier über das Faktische hinaus' sinnbildlich aus dem Spiegel entgegentrat, war unwiderlegbar. Er sah aus wie ein Kind, das die Kleider seines Vaters angezogen hat. Halleck stand völlig aufgelöst vor dem Waschbecken und dachte hysterisch: Hat jemand hier Uhu? Ich muß mir unbedingt einen falschen Schnurrbart ins Gesicht kleben!
Er blickte wieder auf seine Hose hinunter, die sich um seine Schuhe bauschte, sah die schwarzen Nylonsocken, die halbwegs seine behaarten Waden bedeckten, und in seiner Kehle stieg ein würgendes, rauhes Gelächter auf. In diesem Augenblick glaubte er schlicht und einfach... alles. Der Zigeuner hatte ihn tatsächlich verflucht,
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