Flurfunk (German Edition)
mich!«
Sieh mal an. Mein Vater!
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte meine Mutter übertrieben, aber zugegebenermaßen wirkungsvoll aus dem Zimmer. Ihr Auftritt als verhinderte Künstlerin war ihr gelungen. Wenig später hörte ich sie, wer hätte es gedacht, mit Marlene sprechen. Ein gutes Zeichen! Dann musste man sich nicht wirklich Sorgen machen.
Das Zeitungsrascheln wurde unüberhörbar laut.
»Was ist denn, Papa?«
»Also, natürlich würde deine Mutter es nie zugeben, aber erstens handelte es sich um eine kleine Komparsenrolle mit genau zwei Sätzen Text, zweitens hatte sie vor dem Vorsprechen einen hysterischen Heulkrampf und war überhaupt nicht mehr zu beruhigen, und drittens sollte sie unbekleidet auf einer Toilette sitzen und die faz runterspülen – als Protest gegen das konservative Establishment, eine Rolle, die sie nicht besonders überzeugend gespielt hätte, da sie schon damals nicht ohne ihre Dior-Robe, die Cartier-Uhr und den Diamantverlobungsring aus dem Haus ging! Sie verkörperte doch das Establishment … Das Gesicht von Kalwer hätte ich sehen mögen, wenn Helmut sie im Jaguar zum Vorsprechen gefahren hätte. Nachdem sie drohte, sich die Pulsadern aufzuschlitzen, konnte ich sie schließlich überzeugen, dass trotz allen Hangs zur Übertreibung ihre Bretter im realen Leben zu finden sind.«
Bei der Vorstellung, meine Mutter in einem revoltierenden künstlerisch wertvollen Film von Kalwer nackt auf dem Klo zu sehen, musste ich loslachen. Mein Vater stimmte mit ein.
Aus der Halle drang die säuerliche Stimme meiner Mutter zu uns herüber. »Ja, lacht ihr nur! Ihr werdet schon sehen! Marlene sagt, es sei nie zu spät, seine Talente umzusetzen!«
Oh nein! Bedeutete das, dass sie wieder schauspielern würde? Anscheinend ja, denn ich hörte, wie sie Bertha anwies, ihr einen Shakespeareband aus der Bibliothek zu bringen. Na, immerhin nichts von Samuel Beckett.
Wenn ich geahnt hätte, welche Lawine ich mit Justus lostreten würde!
Eine Weile noch unterhielt ich mich mit meinem Vater über die Firma und Caroline in Paris. Meine Mutter ließ sich nicht mehr blicken. Also verabschiedete ich mich von meinem Vater und ging zur Tür. Auf dem Weg kam ich am Salon vorbei und sah meine Mutter in einen dicken Shakespeareband vertieft, während ihre Lippen leise den Text mitlasen.
»Oh Romeo, warum bist du Romeo!«
Das durfte doch nicht wahr sein! Mit fast fünfzig sein verschüttetes Schauspieltalent wieder ausgraben zu müssen, ist das eine. Sich in die Rolle der minderjährigen Julia einzulesen das andere! War ich nur von Irren umgeben? Oder hatte Marlene meiner Mutter einen Floh ins Ohr gesetzt, eine reife Version der Julia sei mal etwas ganz Originelles.
Gerade als ich überlegte, ob ich sie stören sollte oder einfach gehen, rief sie mir zu: » Scharlott ! Wann bringst du Justus mit? Ich möchte ihn unbedingt kennen lernen! Ich habe einige fachliche Fragen an ihn! Hach, das ist alles so aufregend!«
Warum nur? Warum ich? – »Keine Ahnung, wann er mal Zeit hat, Mama. Ich sag dir Bescheid!«
Wie kam ich aus der Nummer bloß wieder raus?
Kaum war ich aus der Tür, schaltete ich mein Handy an. Bei meinen Eltern musste ich es immer ausschalten. Mein Vater hasste Ruhestörungen generell, meine Mutter, von irgendjemandem – und sei es ein Handyläuten – in ihrem Redefluss unterbrochen zu werden.
Meine Mailbox meldete neue Nachrichten. Ich betete, dass sie von Justus waren!
»Sie haben zwei neue Nachrichten.« Nachricht eins, eingegangen um 14.24 Uhr. »Charlotte, ich hab solche Sehnsucht, wo bist du denn?«, hörte ich Justus’ Stimme.
Bei meinen Eltern, die du hoffentlich nie treffen wirst!
Nachricht zwei, eingegangen um 15.08 Uhr: »Gestern Nacht geht mir nicht aus dem Kopf. Wann können wir uns sehen?«
Immer und jederzeit, solange es nicht im Haus meiner Eltern war.
Ich rief ihn zurück.
Allein, wie er sich meldete, ließ mir sämtliche Bilder wieder in den Kopf schießen. Sein leises heiseres Lachen und die Art, wie er mit mir sprach, knockte alle Vernunft in mir aus. Das Schlimmste, was einem als Kontrollfreak passieren konnte. Justus Staufen war garantiert gefährlich; wenn ich nicht aufpasste, würde ich ihm komplett verfallen.
Sei’s drum!
»Und wann sehen wir uns jetzt wieder, Charlotte?«
Es war wie verhext. Justus war die gesamte Woche unterwegs, und der einzige Abend, an dem er mich treffen konnte, war ausgerechnet besagter Katharina-Abend. Lena würde mir nicht
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