Flut: Roman (German Edition)
anfangen, um die Höllenqualen des Alten Testaments zu betteln.
»Es muss nicht so weit kommen«, sagte Benedikt.
Rachel schrak aus ihren Überlegungen hoch und sah ihn stirnrunzelnd an. Einen Moment lang fragte sie sich ganz ernsthaft, ob er ihre Gedanken gelesen hatte. »Wie weit?«
»Das Ende.« Benedikt machte eine Handbewegung nach draußen und legte in der gleichen Geste den Schlüsselbund mit dem albernen Anhänger auf den Sitz neben sich. »In der Bibel steht, dass Gott eine große Flut schicken wird, um die Erde zu reinigen und die Menschheit für ihre Sünden zu bestrafen. Nicht, dass er sie auslöschen wird. Armageddon wird kommen, aber niemand weiß, wann.«
»Gott.« Rachel ließ das Wort bitter auf ihrer Zunge zergehen. »Ja, das sehe ich ein. Las Vegas war ein Sündenpfuhl. All diese Elenden, die nur dorthin gefahren sind, um zu spielen und zu betrügen und zu trinken und zu huren.« Sie schüttelte den Kopf. »Und Bangkok erst einmal. All diese grässlichen Sünder – Kinderprostitution, Menschenhandel und all das. Ich kann Gott gut verstehen, dass er Feuer und Schwefel vom Himmel regnen lässt, um sie zu bestrafen. Geschieht ihnen nur recht.« Sie lachte bitter. »Na ja, und die paar Unschuldigen, die es dabei erwischt hat … das war einfach Pech. So etwas soll vorkommen. Ein paar Pechvögel, die einfach im falschen Moment am falschen Ort waren. Selbst schuld, könnte man sagen. Wo gehobelt wird, da fallen bekanntlich Späne, das weiß doch jeder.«
»Hör auf«, bat Benedikt.
»Warum?«
»Weil diese Diskussion so alt ist wie der Glaube«, antwortete er ernst. »Und weil jetzt nicht der Moment für eine theologische Grundsatzdiskussion ist. Außerdem müssen wir weiter. Ich möchte in der Luft sein, wenn sie den Fahrer finden.«
»Aber wozu das alles noch?«, fragte Rachel. »Wenn doch sowieso alles vorausbestimmt ist, warum sollen wir dann noch kämpfen?«
»Jetzt nicht«, sagte Benedikt traurig. Er schüttelte noch einmal bekräftigend den Kopf und stieg dann aus. Als er die Tür öffnete, fauchten eisiger Wind und staubfeiner Nieselregen in die Fahrerkabine, und Rachel verspürte ein kurzes, eisiges Frösteln. Obwohl die Heizung des Trucks ausgezeichnet funktionierte und es hier drinnen eher zu warm als zu kalt war, hatte sie während der gesamten Fahrt gefroren und ihre Kleider waren immer noch feucht. Allein bei der Vorstellung, wieder in den Regen hinauszugehen, begann sie schon wieder stärker zu frieren. Benedikt hatte den Truck so weit vom Abfertigungsgebäude weg geparkt, wie es nur ging – was Sinn machte. Auf dem großzügig dimensionierten Parkplatz hatten sich Reihen um Reihen ordentlich aufgestellter Wagen zu einer surrealen Landschaft aus bunt lackierten geometrischen Formen versammelt, die normalerweise eine perfekte Tarnung abgeben sollte. Aber die allerwenigsten Fluggäste kamen mit einem ausgewachsenen Vierzigtonner hierher. Der Truck überragte die geparkten Wagen wie ein toter Blauwal, der inmitten eines Schwarms exotischer Vögel an den Strand gespült worden war.
Dennoch: Es war fast ein Kilometer bis zum eigentlichen Flughafengebäude. Obwohl der Regen lange nicht mehr so stark war wie vorher, würden sie wieder bis auf die Haut durchnässt sein, bis sie das Terminal erreichten. Morgen, spätestens übermorgen, dachte sie, würde sie wahrscheinlich mit der schlimmsten Erkältung ihres Lebens aufwachen.
Der Gedanke ließ ein kurzes, freudloses Lächeln auf ihrem Gesicht erscheinen. Als ob das noch eine Rolle spielte.
Sie stieg ebenfalls aus und musste sich beeilen, um zu Benedikt aufzuschließen, der bereits losgegangen war und keinerlei Anstalten machte, auf sie zu warten, und noch nicht einmal langsamer ging. Als sie endlich zu ihm aufgeschlossen hatte, sah er nicht einmal in ihre Richtung. Er wollte nicht reden.
Obwohl sie schnell gingen, brauchten sie mehr als zehn Minuten, um das Terminal zu erreichen, und ganz wie Rachel befürchtet hatte, zitterte sie nicht nur vor Kälte, sondern war auch wieder vollkommen durchnässt. Ihre Kleider klebten unangenehm an der Haut und aus ihren Finger- und Zehenspitzen begann allmählich das Gefühl zu weichen. Immerhin hatte der Regen ein Gutes: Sie waren zwar beide vollkommen durchnässt, starrten jetzt aber zumindest nicht mehr vor Schmutz wie unmittelbar nach ihrer Flucht vom Schrottplatz. Und der Anblick hoffnungslos nass geregneter Leute gehörte seit zwei oder drei Wochen nicht mehr zu den außergewöhnlichsten
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