Forbidden
wandern zu lassen. Die Liebessehnsucht in mir lässt mich fast meine Furcht vergessen. Aber unsere gestohlene gemeinsame Zeit läuft rasend schnell ab. Aus der Küche ist ein Rufen zu hören, Kit taucht wieder aus dem Badezimmer auf, poltert noch einmal die Treppe hoch, und Maya stößt mich weg. Ihre Wangen sind gerötet, und ihr wach geküsster Mund sagt mir, dass er noch mehr will. Wir schauen uns an, wenn ich mich jedoch noch einmal zu ihr beuge und meine Augen nur noch um eine Sekunde bitten, dreht sie schnell den Kopf weg. Sie wirkt unsagbar traurig. Meistens verlässt sie als Erste das Zimmer und schlüpft hinüber ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, während ich zum Fenster gehe, es aufreiße, mich ans Fensterbrett klammere und die kalte Winterluft einatme.
Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das nicht. Bestimmt hat es eine solche Liebe auch schon vor uns gegeben. Sicherlich haben sich auch vor uns schon Brüder und Schwestern ineinander verliebt. Und vielleicht war es ihnen auch erlaubt gewesen, ihre Liebe zu leben, körperlich und emotional, ohne dass sie ständig Angsthaben mussten, verleumdet und geächtet, ja sogar ins Gefängnis geworfen zu werden. Aber Inzest ist gesetzlich verboten. Wenn wir uns lieben und begehren, begehen wir ein Verbrechen. Und das macht mir fürchterliche Angst. Unsere Liebe vor der Welt zu verbergen ist eine Sache; etwas anderes ist es, uns vor dem Gesetz zu verstecken. Deshalb sage ich mir immer wieder: Solange wir keinen Geschlechtsverkehr haben, ist alles in Ordnung. Solange wir nicht wirklich Sex miteinander haben, haben wir rein technisch gesprochen kein inzestuöses Verhältnis miteinander. Solange wir diese letzte Grenze nicht überschreiten, wird unserer Familie nichts geschehen, werden uns die Kinder nicht weggenommen werden, werden Maya und ich nicht auseinandergerissen werden. Wir müssen einfach nur Geduld haben, uns an dem freuen, was wir miteinander haben, bis wir vielleicht, eines Tages, wenn Kit, Tiffin und Willa herangewachsen sind, fortziehen und uns ein ganz neues Leben aufbauen und als Paar frei und glücklich leben und uns lieben können.
Ich muss mich zwingen, nicht dauernd daran zu denken, sonst krieg ich überhaupt nichts mehr auf die Reihe – meine eigenen Hausaufgaben erledigen, für die Prüfungen lernen, abends kochen, den wöchentlichen Großeinkauf machen, Tiffin und Willa von der Schule abholen, ihnen bei ihren Hausaufgaben helfen, dafür sorgen, dass sie am nächsten Tag möglichst saubere Kleidung anziehen, mit ihnen spielen, wenn ihnen langweilig ist. Nebenbei immer ein Auge auf Kit haben – überprüfen, ob er auch was für die Schule tut, und von ihm verlangen, dass er im Haushalt mithilft; ihn dazu überreden, mit uns zu Abend zu essen, statt mit seinen Kumpels zu Burger King zu gehen; sicherstellen, dass er die Schule nicht schwänzt und abends nicht zu spät nachHause kommt. Und natürlich mit Mum ums Geld streiten, andauernd ums Geld streiten, von dem immer weniger und weniger in unserer Haushaltskasse landet, weil sie immer mehr und mehr für Alkohol und neue Kleider ausgibt, mit denen sie Dave beeindrucken will. Unterdessen wächst Tiffin aus allen seinen Sachen raus, Willa bräuchte dringend einen neuen Schulranzen und einen neuen Mantel, Kit beklagt sich bitterlich, dass er mit seinen Freunden und ihrem elektronischen Equipment schon lange nicht mehr mithalten kann, und es flattern ständig neue Rechnungen ins Haus …
Sobald ich von Maya getrennt bin, fühle ich mich unvollständig … sogar noch weniger als das. Ich fühle mich, als wäre ich ein Nichts, als würde ich überhaupt nicht existieren. Ich habe keine Identität. Ich spreche nicht mit anderen Leuten, ich schaue sie nicht einmal mehr an. Mit anderen Menschen zusammen zu sein ist genauso unerträglich wie immer, ja noch schlimmer. Ich befürchte, wenn sie mich richtig ansehen, könnten sie mein Geheimnis erraten. Ich befürchte, wenn ich mit ihnen spreche oder irgendwie kommuniziere, könnte ich, ohne es zu wollen, selbst mein Geheimnis verraten. In den Pausen beobachte ich Maya von meinem Posten auf der Treppe. Maya. Wie gern hätte ich, dass sie sich neben mich setzt, mit mir spricht, mir das Gefühl gibt, am Leben und wirklich und geliebt zu sein, aber in der Schule auch nur mit ihr zu reden wäre zu riskant. Deshalb sitzt sie neben Francie auf der kleinen Mauer am anderen Ende des Schulhofs und wirft keinen Blick zu mir herüber. Wir sind uns
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