Franklin Gothic Medium (German Edition)
anhand dessen man die Koor dinaten hätte bestimmen können.
Nur hin und wieder drangen gedämpfte Geräusche zu ihr durch; leise; abstrus. Wie der zu laut eingestellte Fernseher im Nebenraum eines schäbigen Hotelzimmers, dessen Klang an der Schwelle des Unhörbaren halt macht; letzte Kraft schöpfend, um sich dann doch noch durch die reispapierdünnen Wände zu drängen.
Innerhalb einer Nacht und eines halben Tages war es ihr gelungen, eine waschechte dissoziative Persönlichkeitsstörung nicht nur im Ansatz zu entwickeln, sondern in Rekordzeit voll auszubilden. Sämtliche Stadien waren durchlaufen: Auflösung; Trennung; Zerfall; die gnadenlose Zerstörung ihrer bislang als absolute Sicherheiten erachteten Vorstellungen; das sich Abspalten von sämtlichen bewussten Denk- und Handlungsabläufen; die krankhafte Auflös ung ihrer Bewusstseinsvorgänge.
Schade nur, dass dieses Ziel zu erreichen nie überdurchschnittlich weit oben auf der Rangliste der Dinge stand, die sie in ihrem Leben unter allen Umständen zuwege bringen wollte. Der Wunsch nach einer Geisteskrankheit oder handfesten Psychose hatte auf der Liste eindeutig tiefer rangiert als andere. In etwa zwischen der Absicht Michael Jacksons Nase auf E- Bay zu ersteigern, um sie sich ins eigene Gesicht tackern zu lassen, und der, eine nicht enden wollende Zahnwurzelbehandlung ohne Narkose zu durchleben; dafür aber mit dem Geist der verstorbenen Celine Dion, der im Hintergrund so lange “My heart will go on” trällern sollte, bis selbst der Zahnarzt sich wünschen würde, lieber mit der Titanic untergehen zu dürfen, statt diesen Song no ch ein einziges Mal hören zu müssen.
Plötzlich jedoch veränderte sich ihre Wahrnehmung und damit die Welt. Sie war nicht mehr allein! Irgendetwas oder irgendjemand war bei ihr; berührte sie wie der erste Strahl goldenen Lichts, der die Schwärze der zu Ende gehenden, arktischen Winternacht durchbricht und die Eiswüste wärmend liebkost. Dann stieg eine unglaublich süße Wärme in ihr empor, entsprang ihrer eigenen Mitte. Es musste die Liebe selbst sein, die sie berührte, erregte, orgiastische Wellen der Lust durch ihr wieder erwachendes Bewusstsein schickte und sie zurückführte ins Leben. Das vertraut anmutende Antlitz einer exotischen, dunkelhäutigen Schönheit loderte wie ein Strohfeuer in ihrem Geist auf. Hilfreich wie eine flackernde Kerze, die jemand in ein Fenster gestellt hatte, um dem Liebsten in einer nebligen Nacht den Weg nach Hause zu leuchten. Das musste sie sein, die Liebe, genau so sah sie aus! Welcher Narr würde sie denn nicht auf den ersten Blick erkennen? Sie kannte auch den Eigennamen der Liebe. Und während sein Klang aus den tiefen Schluchten der Erinnerung zu ihr empor hallte, ein immer stärker werdendes Echo, brandete obendrein ein Orgasmus in ihr heran; eine Sturmflut der Sinne; ein Beben der Stärke 9 auf der sexuellen Richterskala. Als sie den höchsten Gipfel der Lust erreichte wusste sie, mit einem Mal, was sie zu tun hatte. Sie musste ihn schreien, diesen Namen. So wie der kleine Bastian Balthasar Bux den Namen seines Mondenkindes gebrüllt und damit ganz Phantasien vor dem alles verzehrenden Nichts gerettet hatte, so würde der Name der Liebe auch sie retten. Also öffnete sie den Mund, holte tief Luft und schrie aus voller Kehle: “Uaaaooooooooooooooooiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii”
Vielleicht, wenn sie den Namen richtig ausgesprochen hätte, hätte der Zauber gewirkt. Abermals schade, doch so brachte ihr Schrei ohne artikulierende Zunge sie nur in eine Realität zurück, die sie mit übergroßem Entsetzen wiedererkannte. Leider war es aber schon zu spät um noch umzukehren. Ebenso wie es zu spät war ihren urgewaltigen Orgasmus noch aufzuhalten. Und so kam und kam sie; angefüllt mit einem nun namenlosen Grauen, das feucht an ihren Schenkeln entlanglief, erbrochen von einem Geysir der Lust, und dort eine brennende Spur auf ihrer Haut hinterließ.
Kapitel 11 - Fanatismus
Ein Fanatiker ist - in psychologischen Begriffen definiert - ein Mensch, der bewusst einen ge heimen Zweifel überkompensiert. (Aldous Huxley)
Im Fliederbusch unter dem Küchenfenster war Naomi weinend in sich zusammengesunken. Es war die eine Sache im Zweifel zu leben , sich die schlimmsten Dinge auszumalen und doch am
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